Laufend loslassen
Bilder aus meiner Kindheit auf, die mit Freiheit und Einschränkung zu tun haben, Situationen, in denen ich nicht ich sein durfte.
Noch weiß ich nicht, was es mir sagen soll, doch ich registriere diese Bilder mit Interesse und Aufmerksamkeit.
Es ist 15 Uhr, als ich das Café verlasse, rasiert und mit geputzten Zähnen. Ich kaufe noch ein. Ein frisches Baguette, Thunfisch in Tomatensauce für das Abendessen und ein schweres Glas Himbeermarmelade landen im Rucksack. Als Wetterprophet bin ich wenig tauglich. Denn als ich um fünf Uhr die N 7 erreiche und überquere, hat mich ein Schauer erwischt und irgendwo hinter mir donnert es. Ich stelle mich unter einer französischen Eiche am Straßenrand unter, die mich einigermaßen trocken hält. Angesichts des Gewitters fällt mir natürlich der Spruch „Von Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen.“ ein. Aber was tun, wenn weit und breit keine Buche zu sehen ist? Gott sei Dank dauert dieser Schauer nur zehn Minuten, dann laufe ich weiter. Zwischen Les Sauvages und hier musste ich zweimal meinen linken Fuß verarzten. Inzwischen habe ich zur zweiten Stufe der Mittel gegriffen und ein Schutzpflaster aufgelegt.
Schon zieht ein weiteres Gewitter näher. Ich wünsche mir, dass ich wenigstens schon ganz im Wald bin, bis es mich erreicht. Also wieder Rucksack ab, Regenschutz entrollen, Hut aufsetzen. Das T-Shirt bleibt an, keine Regenjacke, es ist warm genug. Ich sehe ein Reh auf dem Weg. Der wird zunehmend nasser und bildet zeitweise einen kleinen Bach. Wieder spreche ich zwei Wünsche aus: einen trockenen Unterstand, falls es richtig zu gießen anfängt, und einen guten Schlafplatz zur rechten Zeit. Bei wem wünsche ich mir das eigentlich? Beim Universum? Bei Gott? Aber ihn mit solchen Kleinigkeiten behelligen? Mir liegt das Bild näher, dass es mein Schutzengel ist.
Ich laufe weiter, etwa eine Viertelstunde. Der Regen wird stärker. Plötzlich der Waldrand und - eine Hütte auf einem Picknickplatz mit einer großen überdachten Veranda. Das ist der erwünschte Platz. „Danke.“, sage ich meinem Schutzengel, „gut gemacht!.“ Auf der Veranda kann ich mein Zelt aufbauen und trocken schlafen. Aber es kommt noch besser, die Hütte ist unverschlossen, die Tür nur angelehnt. Drinnen ein großer Tisch und zwei lange Bänke. Ich bin erleichtert, diesmal nicht wieder durchnässt zu werden und dankbar für die Wunscherfüllung. Während ich noch zögere und mich frage, ob ich auch wirklich die Hütte nutzen darf, bricht ein heftiges Gewitter mit starkem Regen und sogar Hagel los. Ich sitze trocken, baue das Zelt auf dem Betonboden der Hütte auf, damit es trocknet, breite meine Liegeunterlage aus, esse gemütlich zu Abend, studiere die Karten von morgen und schreibe Notizen.
Kurz nach sieben bin ich gekommen, jetzt ist es neun Uhr abends und noch taghell draußen. Der Regen hat aufgehört. Ich schreibe noch einen Nachtrag in mein Notizbuch:
Drei Zecken haben mich erwischt, eine unter der Armbanduhr, eine am Hintern und eine am rechten Fuß. Sie werden mit der Pinzette entfernt, die Bisse mit Desinfektionsmittel eingerieben und eine kleine Desinfektionsmittelkompresse gemacht. Ich hoffe, es hilft. FSME gibt es meines Wissens in Frankreich außerhalb der Vogesen nicht, was Borreliose betrifft, wird man sehen. Es ist aber auch kein Wunder bei dem vielen Wald. Ich habe nie geglaubt, dass es in Frankreich so viel Wald gibt, obwohl ich das Land recht gut kenne. Außerdem ist die Gaze des Zeltes so grobmaschig, dass Zecken bequem hindurchspazieren können. Aber was kann man für 14,99 Euro schon verlangen. Außerdem sollte das Zelt leicht sein und Zwischenräume sind natürlich leichter als Gazegewebe.
Mittwoch, 6. Juni
Hart, aber gut geschlafen. Endlich trocken, auch das Zelt. Ich nehme die Straße und nicht den GR 7. Da ist es trocken und kein Pfützenslalom und Fakirlaufen über Steine.
Entsprechend komme ich zügig voran. Um neun Uhr bin ich losgelaufen, die ganze Zeit Nebel und kaum Autoverkehr. Nach knapp zwei Stunden treffe ich in Violay ein. Das Thermometer zeigt 14 Grad. Ich falle ins erste Café und bestelle den obligatorischen Café au Lait, schaue mir die Karte an, um zu entscheiden, wie ich weiterlaufe, GR 7 oder Straße. Auch Wasser bekomme ich aufgefüllt, einen Stempel obendrein. Ich laufe zügig weiter, nachdem ich noch einen Brief an Martina eingeworfen habe, meide aber den GR 7, wo er nicht auf der Straße läuft. Es ist ein schönes Gefühl,
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