Laura Leander 02 - Laura und das Siegel der Sieben Monde
betrachtete Laura den Gefangenen eingehender. Der kräftige Mann schleppte sich schwerfällig dahin. Haselnussbraune Augen stachen aus seinem verschmutzten Gesicht hervor. Dass er elend aussah, lag wohl weniger an dem Stoppelbart, der Wangen und Kinn bedeckte, sondern eher an seiner misslichen Lage. Sein dreckverkrustetes Gewand hing in Fetzen von seinem muskulösen Oberkörper. Blutige Striemen zogen sich über seinen Rücken, und als Laura die Lederpeitsche am Sattel eines Schwarzen Ritters erblickte, wusste sie, woher die Verletzungen rührten. Die Hände des Gefangenen waren mit Stricken gebunden. Sein Hals steckte in einer Henkersschlinge, die mittels eines Seiles mit dem Sattelknopf des Truppführers verbunden war. Laura war entsetzt ob dieser Grausamkeit: Wenn der Unglückliche stolperte und zu Boden fiel, würde sich die Schlinge zuziehen und ihn zu Tode strangulieren!
Betroffen blickte Laura in die Runde der Schaulustigen.
Auf den Gesichtern der Ritter stand fast ausnahmslos ein unverhohlenes Grinsen. Einige von ihnen spuckten beim Anblick des Gefangenen aus, während andere rüde Kommentare hören ließen: »Endlich haben sie ihn erwischt, diesen verfluchten Späher von Paravain!« – »Aufknüpfen, den Hund! Damit er nicht mehr herumschnüffeln kann!« – »Lasst ihn die Peitsche spüren, diesen Knecht des Lichts!« – »Er soll verrecken und der verfluchte Elysion gleich mit ihm!«
Laura musste an sich halten, um nicht laut aufzuschreien vor Empörung.
Die Mägde und Knechte hingegen starrten den Unglücklichen nur wortlos an. In einigen Gesichtern glaubte Laura den Anflug von Mitleid zu erkennen. Sie hatten wohl nur Angst, dies offen zu zeigen. Die Kinder allerdings, die sich ebenfalls unter die Zuschauer gemischt hatten, beobachteten das schändliche Schauspiel teilnahmslos.
Nachdem die Schwarze Garde das Tor passiert hatte, wurde es wieder geschlossen, und die Menge zerstreute sich. Laura aber folgte den Schwarzen Kriegern so unauffällig wie möglich.
Endlich waren die Reiter an der Nordseite des Platzes angelangt. Der Anführer hob die rechte Hand, befahl den Männern abzusitzen und übergab den Gefangenen den beiden Kerkerknechten, die inzwischen auf den Hof getreten waren – einem großen, schmalen und einem kleinen mit zotteligem Haar.
»Sperrt ihn sicher weg, diesen Hund!«, trug er ihnen mit barscher Stimme auf. »Und wenn er auch nur den geringsten Ärger machen sollte, dann schlagt ihn meinetwegen tot!«
Lauras Schrecken hielt sich diesmal in Grenzen, als sie gewahrte, dass es sich bei den Knechten um Trioktiden handelte. Schließlich war sie diesen dreiäugigen Wesen bereits einmal in der Internatsbibliothek begegnet. Das unheimliche dritte Auge auf der Stirn der Wärter taxierte bereits den Gefangenen, während ihr normales Augenpaar noch immer auf den Anführer gerichtet war.
Von allen Seiten wieselten nun Pferdeknechte heran, um sich der Streitrösser anzunehmen. Diensteifrige Mägde eilten mit Weinkrügen herbei und reichten sie den Heimkehrern, während die Kerkerdiener den Gefangenen packten und ihn vor sich herstießen, bis sie mit ihm in einer schmalen Mauerpforte verschwanden.
Es kann sich eigentlich nur um den Eingang zum Verlies handeln, überlegte Laura. Vorsichtig schaute sie sich im Hof um – und Sekunden später hatte die Tür sie verschluckt.
Ä ngstlich starrte Kaja auf das Bett, auf dem der leblose Körper der Freundin lag. Sie musste sich ganz dicht hinunterbeugen, bis sie erkannte, dass Laura nach wie vor atmete. Irritiert griff Kaja nach Lauras Handgelenk und fühlte den Puls. Sie zählte kaum dreißig Schläge in der Minute.
»Das ist einfach unfassbar!« Kopfschüttelnd sah sie Lukas an, der vor dem Computer saß und in die Tiefen des Internets eingetaucht war. »Als ob sie nur noch auf Sparflamme leben würde.«
»Ist doch logosibel!«, erwiderte der Junge beruhigend. »Wahrscheinlich ist das bei ihr so ähnlich wie bei Tieren im Winterschlaf. Die fahren ihren Stoffwechsel auch extrem runter, damit sie so wenig Energie wie möglich verbrauchen.«
»Aber Laura ist doch kein Tier!« Kaja klang richtig entrüstet.
»War doch nur ein Beispiel, du Spar-Kiu. Indische Yogis können das übrigens auch. Durch bloße Willenskraft und absolute Körperbeherrschung kommen sie mit so wenig Luft aus, dass sie es unbeschadet überstehen, wenn man sie für gewisse Zeit in die Erde eingräbt!«
»Echt?«
»Wenn ich’s dir doch sage!«, gab Lukas verärgert
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