Laura Leander 02 - Laura und das Siegel der Sieben Monde
Hellebarde, einen bis zum Rand gefüllten Wasserkrug in der Hand. Sie hatte der Kleinen das Gefäß abgeschwatzt, um es an ihrer Stelle zu den Kerkerknechten ins unterste Verlies zu bringen. Obwohl eigentlich nichts schief gehen und dem Dicken unmöglich auffallen konnte, dass sie nicht zu den Sklaven gehörte, beschleunigte sich Lauras Herzschlag und das Blut rauschte so laut durch ihre Adern, dass sie schon fürchtete, der Trioktid könne es hören. Doch der schaute nicht einmal auf, als sie ihn passierte. Umso heftiger jedoch fuhr ihr der Schreck ins Mark, als er sie nur Augenblicke später unvermutet anrief: »Hey!«
Laura zuckte zusammen, blieb stehen und wandte sich ganz langsam um. »Ja… Herr?«
Der Fettwanst war aufgestanden, watschelte wie eine plattfüßige Ente auf sie zu und starrte sie finster an. »Bist du neu hier?«, fiepte er und lächelte.
Laura bemerkte, dass er nur noch einen gelben Zahnstummel besaß. »Ähm… ja…. ähm… ganz recht, Herr.«
»Brauchst nicht Herr zu mir zu sagen. Mir geht es auch nicht viel besser als dir armem Schwein! Aber einen Gefallen könntest du mir tun?«
»Und… der wäre?«
»Wenn du wieder in die Küche kommst, versuch einen Becher Wein für mich zu organisieren, ja?«
Laura lächelte, und ihre Erleichterung war nicht gespielt. »Ich will’s versuchen.«
»Schön«, sagte Einzahn und streichelte ihr mit den Wurstfingern über das Haar. »Bist ein gutes Kind.« Damit watschelte er zu seinem Platz zurück.
Je tiefer Laura in den Kerker vordrang, umso unerträglicher wurde der Gestank. Der Schwefelgeruch raubte ihr fast den Atem. Die Luft war stickig und feucht, und es herrschte eine höllische Hitze. Bäche von Schweiß rannen dem Mädchen über Gesicht und Körper, als es in einen schummrigen Gang trat und sich vorsichtig umblickte.
Von den Wärtern war nichts zu sehen. Aus der Tiefe des Kerkers allerdings kamen undeutliche Stimmen. Sie klangen gereizt. Ob sie den Trioktiden gehörten, die den neuen Gefangenen in Ketten legten? Aus den Nachbarzellen drangen unterdrücktes Stöhnen und ersticktes Wimmern. Laura wurde trotz der Hitze immer kälter ums Herz. Dicht an dicht reihten sich die niedrigen Verliese aneinander. Gitter aus armdicken Eisenstäben grenzten sie zum Gang hin ab, sodass man sie einsehen und die Insassen jederzeit im Auge haben konnte. Laura hielt den Atem an: Ob Papa wohl in einem dieser Verschlage gefangen war? Wenn sie das Gespräch zwischen dem Fettwanst und seinen Kollegen richtig verstanden hatte, dann war das unterste Geschoss des Kerkers für besondere Gefangene vorbehalten – und zu denen zählte Marius mit Sicherheit.
Sich vorsichtig umblickend, schlich das Mädchen weiter den Gang entlang und spähte in die erste Zelle. Der Steinboden war von Schmutz und Unrat übersät, das Stroh auf den Pritschen verschimmelt. Die drei Gefangenen schienen das nicht wahrzunehmen, ebenso wie sie Laura nicht bemerkten. Zwei von ihnen kauerten in Lumpen auf dem Lager und starrten apathisch vor sich hin. Der dritte – ein Albino, wie die schneeweißen Haare und rot unterlaufenen Augen des Mannes verrieten – war mehr tot als lebendig. Man hatte ihn mit dicken Ketten an der Wand fixiert, die Arme ausgebreitet wie ein Gekreuzigter. Sein ausgemergelter Körper war bis auf einen Lendenschurz nackt. Jede einzelne Rippe zeichnete sich unter der bleichen Haut ab, die von Wunden und eitrigen Schwären überzogen war. Sein Kopf hing kraftlos auf der Brust, und ein kaum hörbares Wimmern kam aus seinem Mund.
Laura stockte fast das Herz beim Anblick des Gemarterten. Sie fühlte Tränen auf den Wangen. Ihre Knie begannen zu zittern, und sie musste sich zwingen weiterzugehen.
Die Insassen der nächsten Zellen waren in ähnlicher Verfassung. Ihren Wunden nach zu urteilen, waren auch sie misshandelt worden.
Plötzlich hörte Laura das Knallen einer Peitsche, gefolgt von den unterdrückten Schmerzenslauten eines Mannes. Sie lauschte entsetzt – das musste aus einem weit entfernten Verlies kommen!
Beklommen setzte das Mädchen seinen Weg fort, als es, wie von einem Keulenhieb getroffen, zusammenfuhr. Beinahe wäre ihm der Wasserkrug aus den Händen geglitten. »Papa, nein!« Mit schreckgeweiteten Augen starrte Laura auf den Mann, der in der Zelle vor ihr auf dem Schlaflager ausgestreckt war.
»Papa!«, flüsterte sie erstickt.
Wie durch einen feuchten Schleier sah sie ihren Vater, der reglos wie ein Stein dalag und nichts um sich herum wahrzunehmen
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