Laura Leander 02 - Laura und das Siegel der Sieben Monde
während die Furcht erregende Fratze von Borboron, gleich einem grässlichen Tiefseefisch, in dem dunklen See ihrer Erinnerung aufleuchtete und ihr hämische Befehle zuflüsterte: »Den Kelch mir geben! Musst du versprechen! Ich werde deinen Vater töten – und dich auch! Kelch mir geben! Vater töten! Töten!«
Laura verstand seine Worte – aber dennoch ergaben sie für sie nicht den geringsten Sinn. Sie konnte einfach keinen Zusammenhang zwischen ihnen herstellen. Vielmehr jagten sie wild hin und her und spielten Fangen in ihrem Kopf. Und je mehr sie ihnen nachhetzte, um sie einzuholen und in eine sinnvolle Ordnung zu bringen, umso größer wurde ihre Verwirrung – aber da war Laura endlich auf dem Boden des Erinnerungsmeeres angelangt. Eine schwarze Wolke wurde aufgewirbelt vom Grund, nahm ihr jede Sicht – bis sie schließlich eins wurde mit einer endlosen Schwärze.
Der Rote Tod bog die Zweige zur Seite, die seinen Blick behinderten. Endlich hatte er freie Sicht auf die Burg. Fast reglos verharrte er in der Deckung einer ausladenden Tanne und musterte das altvertraute Gebäude mit starrer Miene. Es war schon lange her, dass er der Burg den letzten Besuch abgestattet hatte. Früher, vor langer Zeit, hatte er jeden Winkel des weitläufigen Geländes gekannt. Er war in der Lage gewesen, sich dort selbst bei größter Finsternis mühelos zu bewegen. Wie es dem Tod gebührt, hatte er meistens im Dunkel der Nacht zugeschlagen. Am Morgen dann, wenn die Folgen seines heimlichen Tuns bemerkt wurden, war es für die Unglücklichen längst zu spät – und er selbst spurlos verschwunden. Niemand war ihm je auf die Schliche gekommen.
Der Rote Tod nickte. Gewiss – es hatte sich viel verändert seit seinem letzten Besuch. Aber dennoch würde er sich ohne Probleme zurechtfinden. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass er sein dunkles Werk verrichtete. In der bevorstehenden Nacht würde er seinen Auftrag ausführen – und auch diesmal würde ihn niemand aufhalten.
Er ließ die Zweige los, die sofort in die alte Stellung zurückschwangen. Als er sich lautlos in den Henkerswald zurückzog, lag ein grimmiges Lächeln auf seinem bleichen Gesicht.
Laura schlug die Augen auf und erblickte nichts als Weiß – offensichtlich das Weiß einer Bettdecke. Der Geruch von Desinfektionsmitteln und Medizin kribbelte ihr in der Nase. Verwirrt richtete sie sich auf, blinzelte und sah sich um. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr klar wurde, dass sie sich in einem Krankenhaus befand. Sie trug ein weißes Nachthemd und lag in einem Stahlrohrbett, an dessen Kopfende ein massiver Galgen befestigt war. An einer grauen Schlaufe hing ein triangelförmiger Haltegriff davon herunter und baumelte direkt vor ihrer Nase. Eine Kanüle steckte in Lauras linker Armbeuge. Sie war durch einen langen Plastikschlauch mit einer Infusionsflasche verbunden, aus der eine durchsichtige Flüssigkeit in ihren Körper tropfte.
Verwundert ließ Laura sich zurück auf das Kissen sinken: Was war geschehen? Warum war sie in einer Klinik?
Da ging auch schon die Tür auf, und eine wohlbekannte Gestalt trat in das Krankenzimmer: Percy Valiant. Sogleich erschien ein freudiges Lächeln auf seinem jungenhaften Gesicht. »Wie iisch se’e, ‘ast du diisch erfreuliischerweise dazu entschlossen, diisch endliisch aus Morpheus’ Armen zu lösen!«
Laura schaute ihn entgeistert an. »Hä?« war alles, was sie über die Lippen brachte.
Percys guter Laune konnte das nichts anhaben. Er lächelte unvermindert weiter. »Der lange Schlaf ‘at dir offensiischtliisch die Sinne verwirrt, und dein Verstand arbeitet noch niischt normal. Sonst würdest du diisch daran erinnern, dass es siisch bei Morpheus um den griechiischen Traumgott ‘andelt, wes’alb man siisch während des Schlafes auch in den Armen desselben befindet – sinnbildliisch geschprochen natürliisch.«
»Ah, ja«, antwortete Laura bedächtig, und allmählich kehrten ihre Lebensgeister wieder zurück. Fragen über Fragen türmten sich plötzlich auf in ihrem Kopf. »Warum bin ich hier, Percy?«, wollte sie wissen. »Und wie lange schon? Was ist eigentlich passiert?«
Der Eifer, mit dem die Worte aus Laura hervorsprudelten, schien den Blonden zu belustigen. » D oucement, M ademoiselle, eines nach dem anderen. Am besten, wir fangen ganz vorne an: Du warst gänzliisch am Ende deiner Kräfte angelangt, als du von deiner Traumreise zurückgeke’rt bist. Des’alb fü’lten wir uns bemüßiischt, diisch
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