Laura Leander 02 - Laura und das Siegel der Sieben Monde
nicht bemächtigen können, als sie auch schon auf einem nachgiebigen Untergrund landete, der ihren Aufprall abfederte. Alienor verspürte kaum einen Schmerz. Verwundert richtete sie sich auf und schaute sich um. Sie befand sich auf einer Plattform, die vielleicht zehn auf zwanzig Schritte maß und aus dicken, mit Tauen aneinander gebundenen Balken gefügt war. Darauf stand ein Mast, an dem ein großes Segel aus blauem Tuch flatterte. Das Ganze erinnerte sie an ein Floß – nur, dass das Gefährt nicht auf Wasser dahinfuhr, sondern durch die Luft schwebte!
Alienor sperrte den Mund auf vor Staunen, als sie auch schon ein leises Kichern hörte. Sie wandte sich um und erblickte ein Männchen, das nicht größer war als sie selbst. Sein ballonförmiger Kopf wirkte riesig im Vergleich zu seinem schmächtigen Körper. Wie ein großer gelber Luftballon schwebte er auf dem kurzen Hals. Der Wicht trug ein blaues Gewand und hielt einen Bogen in der Hand – offensichtlich hatte der Gelbhäuter sie aus den Fängen des Flugkraken gerettet.
»Staunst du, was?« Wieder kicherte der Wicht. »Ist auch kein Wunder. Hast wohl noch nie ein Luftfloß gesehen. Und einen Levator wahrscheinlich auch nicht – oder doch?«
Da erst bemerkte das Mädchen, dass das Männchen gar nicht auf dem Luftfloß stand. Seine Füße, die in blauen Lederstiefeln steckten, schwebten vielmehr eine Handbreit über den Balken.
Alienor verstand überhaupt nichts mehr.
D er Gedanke, zur Untätigkeit gezwungen zu sein, missfiel Laura. Dennoch musste sie einsehen, dass sie nichts tun konnten, als einfach nur zu warten. Die Mitbrüder würden den Bibliothekar spätestens beim Abendessen vermissen. Sobald sie sich auf die Suche nach ihm machten, würden sie aus ihrem unfreiwilligen Gefängnis befreit werden. Irgendjemand im Kloster musste doch von der geheimen Bibliothek wissen. Es war völlig ausgeschlossen, dass sie einzig und allein Pater Dominikus bekannt gewesen war.
Peinlich darauf bedacht, keinerlei Spuren der Mordtat zu verwischen und so die Arbeit der Polizei zu erschweren, nahmen Laura und Percy die Bibliothek genauer unter die Lupe. Als sie sich einen ersten Überblick über die beeindruckende Büchersammlung verschafft hatten, wurde ihnen klar, warum diese wohl nur Eingeweihten zugänglich war: Die Mehrzahl der alten Bände, Folianten und Pergamente, die in dem Archiv gesammelt waren, enthielten geheime oder gar verbotene Schriften. Zahllose Bibeltexte, deren Existenz die Kirchenführung offiziell stets bestritten hatte; Aufzeichnungen, deren Verfasser als Ketzer auf dem Scheiterhaufen gelandet waren; Berichte von Geheimbünden, die über die Jahrhunderte erbittert verfolgt wurden; und die brisanten Traktate von Verfemten.
Laura staunte über die unermesslichen Schätze. »Was ich nicht recht verstehe – warum hat man alle diese Bücher aufbewahrt, wenn sie doch verboten waren?«
»Das Verbot einer Schrift sagt niischt das Geringste über i’ren In’alt und i’ren Wert aus – und bedeutet schon gar niischt, dass sie niischt die Wa’r’eit verbreitet. Ganz im Gegenteil: Mansche Wa’r’eiten sind so schwer erträgliisch, dass man sie lieber verschweigt, als siisch i’nen zu stellen!«
Nachdenklich ließ Laura die Augen über die Buchrücken wandern. Es mussten Tausende und Abertausende sein. War es denn denkbar, dass all diese Erkenntnisse eine Gefahr darstellten? Und wenn ja – für wen? Für alle Menschen – oder nur für einige wenige? Laura hatte darüber noch nie nachgedacht, aber schon bald wurde ihr klar, dass Percy Recht hatte. Nicht alle Menschen besaßen ein Interesse daran, die Wahrheit ans Licht zu bringen – sie unterdrückten sie vielmehr, wo es nur ging. Würde zum Beispiel Dr. Schwartz zugeben, dass er nach Kräften danach strebte, den Mächten der Dunkelheit zur Herrschaft über die Erde und über Aventerra zu verhelfen? Niemals! Er würde das vehement bestreiten und jeden, der das behauptete, der Lüge bezichtigen – und natürlich alles daran setzen, dass jedes Dokument und jede Schrift, die das beweisen konnte, vernichtet wurde und auf immer verschwand!
Ähnlich verhielt es sich vermutlich mit den Aufzeichnungen, die in diesem unterirdischen Archiv aufbewahrt wurden. Ihr Inhalt wird irgendjemandem nicht in den Kram gepasst haben, wann und aus welchen Gründen auch immer. Und wenn der Betroffene nur Macht genug besessen hatte, dann konnte er ohne Probleme dafür sorgen, dass die unbequeme Wahrheit nicht an
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