Lauras Bildnis
dem Gedanken, seelischen Nöten entgegenzugehen.
Als ich mein Zimmer betrat, sah ich meine Frau im Halbdunkel schlafen. Die Fenster standen offen, und die Vorhänge wehten in den Raum hinein. Diese sanfte Bewegung schien das einzig Lebendige hier. Ich setzte mich auf den Bettrand und betrachtete das Gesicht der Schlafenden. Die Halbkugelform der Augen unter den geschlossenen Lidern erschreckte mich. Es war ein Totengesicht.
Ich schämte mich in diesem Moment, denn ich war Zeuge, wie nahe Vertrautsein und Fremdheit beieinanderliegen. Es ist wie bei einem Bild. Vorder- und Rückseite sind nur einen Millimeter auseinander, und dennoch blicken wir einmal in die Tiefe einer gemalten Landschaft, die unsere Seele berührt, während wir auf der anderen Seite nur die flache Struktur einer Leinwand sehen.
Ich legte meine Hand vorsichtig auf ihre Stirn. Sie war kühl und schweißbedeckt. Ich wartete so in einer Regungslosigkeit, die mehr und mehr auch mein Inneres erfaßte. Es fiel mir immer schwerer zu atmen, und auch mein Herz klopfte langsamer als sonst. Schließlich rührte sie sich und öffnete die Augen. ‘Mir ist nicht gut’, flüsterte sie. ‘Kannst du mir eine Schüssel holen?’
Ich holte auch noch ein Handtuch und einen Waschlappen. Dann blieb ich unschlüssig im Zimmer stehen. ‘Laß mich schlafen’, sagte meine Frau tonlos. Sie zog sich die Decke bis unter die Augen. ‘Ich gehe noch mal weg’, sagte ich. ‘Auf die Vernissage. Sie beginnt um acht. Schlaf dich gesund.’ Meine Frau reagierte nicht.
Sie war nicht mehr als eine Wölbung der Daunendecke und ein dunkler Fleck auf dem Kissen.
‘Also, bis später’, flüsterte ich und schloß leise die Tür. Dann eilte ich durch die Dämmerung einer menschenleeren Straße mit Häuserfassaden und Bäumen, die in ihren leicht verzerrten Formen und trüben Farben von jenem Expressionisten hätten gemalt sein können, dessen mittelmäßigen Bildern ich die Entdeckung der Gentildonna verdankte.
Ich habe Vernissagen immer gehaßt. Das gehäufte Hängen von Bildern eines einzelnen Malers kommt mir vor wie optische Kakophonie. Wie habe ich da immer die Künstler des Wortes und der Musik beneidet, deren Erzeugnisse nicht simultan, sondern über das Medium der Zeit konsumiert werden.
Niemand kann mir ausreden, daß es für Malerei im Grunde nur eine einzige angemessene Form der Ausstellung gibt: einen schwarzen oder weißen Raum, in dem nur ein einziges Bild hängt. Dieses Bild darf nicht angeleuchtet werden. Künstliches Licht ist immer ein verfälschender Eingriff in die Wirkung der Pigmente. Vielmehr sollte dieser schwarze oder weiße Raum seitlich zum Bild ein etwa gleichgroßes Fenster haben, das im Idealfall nach Süden auf eine offene Landschaft hinausgeht. Dann vermag das wechselnde Licht eines Tages, vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung, dem Bild Leben zu geben. Die je nach Tageszeit unterschiedliche Farbtemperatur verändert die Bildwirkung in einer Weise, die dem Malvorgang gerecht wird. Auch der Maler hat vor einem Fenster gemalt und sein Bild zu unterschiedlichsten Tageszeiten gesehen und verändert.
Jeder wirkliche Maler weiß, daß das natürliche Licht in seine Palette hineinmischt, und er berücksichtigt selbstverständlich in seinen Kunstwerken diese kollegiale Mitarbeit.
All dies dachte ich auf meinem Weg zu der Abendveranstaltung der Kunstschule, bei der Bilder der neuen Stipendiatin vorgestellt werden sollten. Die Vernissage fand im Gewölbekeller des Gebäudes statt.
Es war brechend voll. Eine ganze Weile steckte ich zwischen Besuchern, ohne ein einziges von Lauras Bildern zu Gesicht zu bekommen. Ich freute mich, als ich in dem Gedränge plötzlich Dr. Labisch erkannte. Es gelang mir, zu ihm durchzukommen. Was sonst undenkbar war, ergab sich hier zwangsläufig: Ich berührte ihn körperlich. Es war ein Gefühl, als ob man einen toten Vogel aufhebt. Er scheint immer noch zu leben, allein durch die Leichtigkeit seiner hohlen Knochen.
‘Es ist kaum zu glauben’, sagte Dr. Labisch. ‘Sie malt, und was noch ungewöhnlicher ist, sie zeichnet in einer Manier, wie ich sie sonst nur in der Renaissance gefunden habe. Ungewöhnlich präzise. Die Bewegung entsteht nicht durch die üblichen Mauscheleien von Strich und Farbe, sondern durch die äußerste Strenge, mit der die Details festgehalten sind. Wenn man sehr nahe ist und genau hinsieht, ist alles erstarrt, wenn man nur einen Schritt zurücktritt, beginnt das Ganze zu fließen.
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