Laurins Vermächtnis (German Edition)
Großmutter auf dem Sterbebett gesagt hatte.
So hell der Mond die Lichtung beschienen hatte, so dunkel war der anschließende Weg durch den Kiefern- und Lärchenwald. Aber Matthias Jäger kannte jeden Meter hier; er wusste, auch ohne viel zu sehen, wo er auf Wurzeln oder Felsen zu achten hatte.
Er dachte über die Gespräche nach, die er an diesem Tag mit seinem Bruder und seinem ältesten Freund geführt hatte. Beide Male hatte er das Gefühl gehabt, gegen eine Wand zu reden. Noch bevor er richtig erzählen konnte, wurden ihm seine Worte zurückgeworfen. Was hatte Rainer am Morgen über Nonna gesagt?
„Wer weiß, welcher Film da gerade in ihrem Kopf ablief?“
Und Paul meinte, bei den Bemerkungen über Adolf Eichmann und den Pfarrer, über Gold, die Reichsbank und die SS müsse die Großmutter wohl phantasiert haben. Was sollte das? Helene Jäger war zeit ihres Lebens eine nüchterne, sachliche Frau gewesen. Sie hatte immer schon lieber geschwiegen, als etwas von sich zu geben, das nicht Hand und Fuß hatte. Und ausgerechnet über ihren Mann, mit dem sie 60 Jahre verheiratet gewesen war, sollte sie Unsinn erzählen? Das war zumindest nicht naheliegend. Rainer war richtiggehend wütend geworden, als Matthias von seinem letzten Besuch bei Nonna erzählte, und sein bester Freund Paul wusste keinen besseren Rat, als sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Matthias musste sein Wissen, seine Ahnungen, seine Gefühle mit jemandem teilen. Natürlich mit Greta – hatte man nicht unter anderem für so was einen Menschen an seiner Seite? Gerade Greta müsste ihm doch eine Hilfe sein können, mit ihrer von Nazis verschatteten Familiengeschichte. Andererseits: Ausgerechnet über dieses Thema hatten sie noch nie so richtig gesprochen. Es war Gretas wunder Punkt. Zwar kannte spätestens seit dem Vorfall in Paris und den Berichten in der Presse danach alle Welt die Einzelheiten ihrer Herkunft, aber darüber sprechen wollte sie nicht. Nicht einmal mit ihrem Freund, ihrer Zuflucht vor der Welt. Aber mit wem sollte er sonst reden? Mit Rainer? Dieser Versuch war ja schon im Ansatz schief gegangen. Mit Anna? Anna war Rainers Frau. Wollte er ihr zumuten, sich gewissermaßen hinter dem Rücken ihres Mannes mit Familiengeheimnissen zu beschäftigen? Gut, es gab noch Manfredo Fratelli. Aber die wichtigsten Fragen, die die beiden Motorrad-Kumpel bislang gewälzt hatten, waren die, ob es eine BMW an Sinnlichkeit mit einer Harley-Davidson aufnehmen kann, ob Birra Moretti ein Göttertrank oder eine müde Brühe ist, und welche Frau im Motorraddress die beste Figur macht.
Als Matthias Jäger wieder am Jägerhof ankam, war es eine halbe Stunde nach Mitternacht. Es wäre noch später geworden, hätte ihn nicht ein angetrunkener Jungbauer ein paar Kilometer auf der Ladefläche seiner Piaggio Ape mitgenommen. Auf der Strecke zwischen Ums und Tiers waren ihm ansonsten gerade mal zwei Autos entgegen gekommen. In keinem der Häuser am Straßenrand brannte noch Licht. Hier in der Gegend geht man zeitig zu Bett; die Bauern müssen morgens früh raus und die Urlauber sind müde von der ungewohnt vielen Bewegung an der frischen Luft. Erst nachdem Matthias leise die schwere Eingangstür des Jägerhofes aufgeschlossen hatte, bemerkte er, dass ihm die Nacht doch nicht ganz allein gehörte. Auf dem blanken Holzboden der Haupthalle lag ein schmaler Lichtstreifen. Das Licht kam von rechts, durch den Spalt zwischen den Schiebetüren der Bibliothek. Er konnte sich nicht erinnern, wann zuletzt einer der Gäste so spät noch am Kamin gesessen hatte. Außerdem kam das Licht, das durch den Türspalt schien, nicht von einer der Leselampen auf den Sofatischchen. Dieses Licht war heller. Matthias schlüpfte aus seinen Wanderschuhen und schlich sich auf Socken zur Tür. Wenn er durchs Schlüsselloch schaute, hätte er normalerweise die Rückseite des Sofas sehen müssen, auf dem er am vergangenen Vormittag gesessen und mit seinem Bruder gestritten hatte. Da stand aber kein Sofa; jemand musste es weggerutscht haben. Was Matthias stattdessen sah, war eine Gestalt, die auf dem Boden kniete und sich mit den Ellenbogen aufstützte. Er bewegte seinen Kopf vor dem Schlüsselloch ein ganz kleines Stückchen nach rechts, um den linken Rand seines Blickfeldes ein wenig zu verschieben. Das genügte. Deutlich genug, um sich sicher zu sein, erkannte er die kurzen, dunkelroten Haare seines Bruders. Rainer Jäger schrubbte mit einem weißen Tuch in der rechten Hand über den roten
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