Laurins Vermächtnis (German Edition)
Verstrickungen von Matthias‘ Großeltern sie derart aufwühlte. Schließlich waren es nicht ihre Verwandten. Karl Jäger hatte sie nicht einmal gekannt und mit Helene Jäger hatte sie niemals über frühere Zeiten gesprochen. Natürlich war es das Normalste der Welt, dass Matthias ihr erzählte, was er erfahren hatte, dass er sie einbezog. Und doch fühlte sie sich bedrängt. Sie war sich sicher, ihre eigene unappetitliche Familiengeschichte hinter sich gelassen zu haben. Sogar ihr unrühmlicher und peinlicher Abgang aus der Öffentlichkeit im vergangenen Sommer fühlte sich im Nachhinein fast wie ein Befreiungsschlag an, wie die letzte demonstrative Konsequenz, die sie ziehen konnte. Und jetzt kam Matthias, an dessen Seite sie einen neuen Anfang machen wollte, und rührte alles wieder auf. Was sollte sie jetzt tun? Sollte sie etwa sagen: „Mein Freund, das ist Deine Geschichte, mit der ich nichts zu tun haben will“ und ... gehen? Nein, natürlich nicht! Natürlich wollte sie Matthias beistehen, egal, was da noch kommen möge. Das bedeutete aber auch, ob sie es wollte oder nicht, dass die Tür des Giftschrankes in ihrem Kopf, die sie so gut verschlossen gewähnt hatte, wieder aufgehen würde.
Sie schaute auf die Schreibtischschublade. Sie wusste, dass Matthias dort die Zeitungsartikel aufbewahrte, die über sie geschrieben worden sind. Eines Tages, hatte er gesagt, würde sie sie bestimmt doch noch lesen wollen. Sie hätte nicht gedacht, dass dieser Tag so schnell kommen würde.
Sie überflog die Meldungen aus der Sportzeitung, dann nahm sie den Schnellhefter mit dem kopierten Artikel aus dem französischen Magazin. Ein recht umfangreiches Traktat, wie sie schon auf den ersten Blick sah.
Le Miroir, 15. Dezember 2008
Dem Philosophen und Psychiater Paul Watzlawick wird der Satz zugeschrieben: „In der Wahl seiner Eltern kann man nicht vorsichtig genug sein.“
Die Tennisspielerin Greta Baladier gehört zu den Menschen, die sich sicher andere Eltern gewählt hätte, gäbe es diese Möglichkeit. Mehr als einmal wird sie sich gewünscht haben, die Tochter von irgendjemandem zu sein und nicht gerade die eines berüchtigten Rechtsextremen.
Wäre ihr Vater ein anderer, wäre auch sie eine andere und wahrscheinlich auch nicht Tennisspielerin geworden – vielleicht aber doch. Was ihr aber bestimmt erspart geblieben wäre, ist jener Augenblick vor einem halben Jahr in Paris. Dieser spontane, vollkommene Kontrollverlust, der sie einen Zuschauer mit dem Schläger angreifen und verletzen ließ. Und was ihr unmittelbar zuvor ebenfalls erspart geblieben wäre, ist der Zuruf dieses Zuschauers, der etwas in ihrem Gehirn, das jahrelang gehalten hatte, reißen ließ:
„Ihr steht immer zu weit rechts, das ist eine Familienkrankheit bei Euch.“
Das alles wäre ihr erspart geblieben, hätte irgendjemand anderer sie gezeugt, als der seit seiner Jugend in der Wolle braun gefärbte Schreiber Pierre Baladier.
Väter, für die man sich schämen kann, haben andere auch. Aber Greta Baladier hat mit ihrer Familie außerordentliches Pech: Ihre Großeltern – Großmutter und Großvater mütterlicherseits – sind ebenfalls Helden in rechten Kreisen, wenn auch solche aus der zweiten Reihe.
Die Großmutter, Unity Mitford, wurde 1914 in London als Tochter eines Adeligen geboren. Wenn man sagte, Unity Mitford habe Adolf Hitler verehrt, es wäre eine Untertreibung. Der deutsche Diktator wiederum bezeichnete sie und ihre Schwester Diana als „perfekte Exemplare der arischen Frau“. Diana Mitford war in zweiter Ehe mit dem britischen Faschistenführer Sir Oswald Mosley verheiratet. Die einzigen Gäste der Hochzeit waren – neben dem Standesbeamten und den Trauzeugen – Adolf Hitler und Joseph Goebbels.
Unity besuchte schon als Teenager – gegen den Willen ihrer Eltern – Mosley regelmäßig. Der Chef der British Union of Fascists war damals noch mit seiner ersten Frau verheiratet, lebte aber bereits mit Unitys Schwester zusammen. Irgendwann fasste die junge Frau den Entschluss, den „Führer“ persönlich kennen zu lernen, und sie verfolgte ihren Plan geradezu generalstabsmäßig: Im Herbst 1934 begann sie, an einer Sprachschule in München deutsch zu lernen, um ihrem Idol einst eloquent gegenübertreten zu können. Am 2. Februar 1935 war es so weit: Sie wurde Hitler in dessen Münchner Lieblingsrestaurant „Osteria Bavaria“ vorgestellt, nachdem sie sich dort zuvor wochenlang fast jeden Tag herumgetrieben hatte. Zwischen dem
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