Laurins Vermächtnis (German Edition)
letzten beiden Ziffern auf der rechten Seite waren „75“. Jedes französische Kind hätte sofort gewusst: Der Besitzer dieses Wagens wohnt in Paris.
Greta beschlich ein seltsames Gefühl, aber bevor sie dem auf den Grund gehen konnte, klingelte ihr Handy.
Matthias verstand sich selbst nicht.
Er war heiter, obwohl er jeden Anlass gehabt hätte, sich mies zu fühlen. Seine Großmutter war vor gerade einem Tag gestorben. Er vermisste sie, er spürte jetzt schon das Loch, das ihr Tod in seine Existenz gerissen hatte. Mit ihr war der Jägerhof ein Ort der Wärme und Güte gewesen. Und jetzt? Und dann waren das Letzte, was sie ihm hinterlassen hatte, auch noch Andeutungen, die geeignet waren, sein Weltbild zu zerbrechen. Das alles konnte er nicht verändern. Aber dafür war er Herr seiner weiteren Entscheidungen. Er, der sich so sehr daran gewöhnt hatte, nur zu beobachten, wie die Dinge sich entwickelten und sich dann mit ihnen zu arrangieren, hatte beschlossen, ein Entscheider, ein Beeinflusser zu werden. Matthias würde gar nicht versuchen, eine erneute Auseinandersetzung mit seinem Bruder zu führen, er würde aus eigenem Antrieb handeln. Sein gutes Gefühl angesichts dieser Aussicht trübte nicht einmal die Tatsache, dass er noch gar nicht wusste, worin dieses Handeln bestehen würde.
Matthias trat kurz vor die Tür des Jägerhofs, atmete tief durch, genoss die Frühlingssonne im Gesicht und dachte sich, dass lila in diesem Leben nicht mehr seine Lieblingsfarbe werden würde. Dann ging er auf direktem Weg in die Küche, wo er sich sein Frühstück zusammenstellte: Kaffee, Orangensaft, Müsli mit Joghurt und eine Schinkensemmel. Er machte das meistens so, weil es ihm unangenehm war, sich in seinem eigenen Haus vom Personal bedienen zu lassen, erst recht so spät am Vormittag, wenn die Frühstückszeit eigentlich schon vorbei war. Als Matthias sein Tablett zu dem Tisch unter der großen Kastanie trug, seinem Lieblingsplatz auf der Terrasse, sah er Rainer im Gespräch mit dem Chefkoch – wahrscheinlich wegen des Abendessens. Er setzte sich so, dass sein Bruder ihn leicht sehen konnte, dadurch war es an diesem, zu entscheiden, ob er nach der Unterredung mit dem Koch das Gespräch suchte oder gleich wieder im Haus verschwand.
Offenbar hatte sich auch Rainer Jäger vorgenommen, aus diesem Tag etwas Gutes zu machen. Jedenfalls wandte er sich, nachdem der Koch gegangen war, seinem Bruder zu, setzte sich neben ihn und sagte auf eine Art, die durchaus aufrichtig klang: „Na, wie geht‘s Dir heute?“
„Na ja“, antwortete Matthias, „die Nachricht von Nonnas Tod hat mich schon sehr getroffen, obwohl wir ja mehr oder weniger jeden Tag damit rechnen mussten. Und unser Gespräch gestern früh – Du warst so ... kalt ... ja, eiskalt hast Du gewirkt und aggressiv.“
„Du hast Recht, es tut mir leid. Du hast mich auf dem falschen Fuß erwischt. Ich hatte den Kopf voll und überhaupt keinen Sinn für irgendwelche Geschichten aus dem Krieg. Ich hätte Dich nicht anschreien dürfen.“
Matthias hatte so etwas wie „schon gut“ auf den Lippen, sagte aber nichts, denn es war einfach nicht gut. Er wollte seinem Bruder die Entschuldigung auch nicht leichter machen oder die Art und Weise relativieren, wie der sich immer wieder benahm.
„Ich mach‘ Dir einen Vorschlag“, sagte Rainer. „Ich habe diese Woche viel zu erledigen, und Du unternimmst ja, glaube ich, morgen die Motorradtour mit den Gästen. Anna hat versprochen, Nonnas Beerdigung vorzubereiten, wahrscheinlich wird sie am Freitag sein. Lass‘ uns alle Nonna auf ihrem letzten Weg begleiten, und danach – oder meinetwegen auch am Samstag – setzen wir beide uns zusammen und reden über alles, was Dir und mir wichtig ist.“
Nonnas Beerdigung.
Aus Rainers Mund klang das wie ein Tagesordnungspunkt. Dabei waren Karl und Helene Jäger die Seele dieses Hauses gewesen, und jetzt war auch die zweite Hälfte dieser Seele für immer verschwunden.
Außerdem klang dieses ganze Gerede für Matthias‘ Ohren zu geschmeidig und liebenswürdig, um wahr zu sein. „Alles, was Dir und mir wichtig ist“ - das stammte so gar nicht aus dem Original-Repertoire von Rainer Jäger. Trotzdem war Matthias froh, dass sein Bruder zumindest für den Augenblick keinen Streit suchte. Und nicht zuletzt hatte er gerade ein paar Tage Luft gewonnen.
„Ja genau, so machen wir‘s.“
Rainer lächelte, legte seinem Bruder kurz die Hand auf die Schulter und wandte sich schon zum Gehen,
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