Laurins Vermächtnis (German Edition)
Großmütter nie kennengelernt?“
„Beide sind schon ganz lange tot. Die eine starb bei der Geburt meiner Mutter, die andere wurde Anfang 1945 erschossen.“
„Erschossen?“
„Die Mutter meines Vaters war Kommunistin. Im Herbst 1944 sperrten die Nazis sie ins Durchgangslager Bozen. Kurz bevor sie nach Mauthausen gebracht werden sollte, versuchte sie zu fliehen. Beinahe hätte sie es geschafft.“
„Das ist ja furchtbar“, sagte Matthias. Er spürte, wie hohl sich dieser Satz anhören musste, aber etwas anderes ging ihm gerade nicht durch den Kopf.
„Na ja, wie gesagt – das war alles lange vor meiner Zeit, ich habe keine Beziehung zu meinen Großmüttern, aber trotzdem: Der Gedanke, Dein Großvater ... Euer Großvater ... könnte etwas mit der SS zu tun gehabt haben, kotzt mich gerade besonders an.“
„Ich will herausfinden, was es mit all dem auf sich hat. Auf Hilfe von meinem Bruder oder meinem Freund Paul brauche ich wahrscheinlich nicht zu zählen. Es tut mir leid, dass Du Streit mit Rainer hattest. Ich weiß noch nicht, was ich als Nächstes tun werde, aber auf jeden Fall halte ich Dich da heraus; ich will nicht, dass Du in eine blöde Situation kommst.“ Matthias starrte mit leerem Blick auf Annas Fußrücken. „Ach Scheiße! Ich hätte Dir das alles sowieso nicht erzählen sollen!“
„Doch“, sagte Anna und griff nach Matthias‘ Hand, es ist gut so. In einer Familie muss man voneinander wissen, was wichtig ist, in einer Familie unterstützt man sich. Außerdem: Warum sollte ich in eine blöde Situation kommen?“ Sie zögerte kurz. „Und falls doch, wäre es nicht Deine Schuld.“
„Danke Anna“, sagte Matthias leise und nahm seine Schwägerin in den Arm.
Matthias war schwindelig, als er in Richtung der Weinkellertür ging. Die Ereignisse der vergangenen dreißig Stunden und der Blauburgunder zeigten Wirkung in seinem Kopf.
Als er wieder nach oben kam, warf er einen Blick auf die Tür der Bibliothek. Dahinter war jetzt alles dunkel.
Auch in seinem Zimmer war es finster. Schemenhaft sah er die Gestalt von Greta, die vom Türöffnen offenbar wach geworden war, sich einkringelte wie eine Katze und stöhnte:
„Mattes, wo warst Du den ganzen Tag, ich hab‘ mir Sorgen gemacht.“
Matthias setzte sich auf die Bettkante und strich ihr einen strubbeligen Schopf aus der Stirn.
„Entschuldige, mir geht‘s gut. Ich musste so schnell weg und ich hab‘ mein Handy liegen lassen. Ich erzähl Dir morgen alles.“
Er fand selber, dass das eine ziemlich dünne Antwort war, aber Greta schien in ihrem halbwachen Zustand damit zufrieden. Sie küsste Matthias auf die Handfläche, drehte sich auf die andere Seite und ein paar Augenblicke später atmete sie schon wieder tief und gleichmäßig.
Während Matthias im Bad stand und sich die Zähne putzte, betrachtete er im Spiegel sein Gesicht. Er war jetzt kein Enkel mehr; vielleicht wurde es Zeit, erwachsen zu werden.
4. Kapitel
Matthias Jäger war seltsam wohl zumute, als er nach ein paar Stunden erholsamen Schlafes gegen Mittag wieder erwachte. Der Frühlingshimmel vor dem Fenster war strahlend blau und neben ihm im Bett lag Greta. Ihr Oberschenkel unter der Bettdecke fühlte sich gut an, warm und weich – wie immer. Er dreht sich zu ihr, umarmte sie von hinten und umfasste mit beiden Händen ihre Brüste. Das Leben mit Greta fühlte sich gut an, auch wenn sie schon immer ihr eigenes Ding gemacht hatte. In der Zeit, in der sie als Tennisprofi einen großen Teil des Jahres in der Weltgeschichte unterwegs war, sowieso, aber auch jetzt, da sie seit ein paar Monaten keinen Tennisschläger mehr angerührt hatte und fest im Jägerhof wohnte. Sie las viel, schrieb und ging offenbar schwanger mit dem Gedanken, in Südtirol eine Tennisschule, ein Tenniscamp oder irgendetwas in der Art aufzubauen. Gleichzeitig aber war sie aber nicht verschlossen oder eigenbrötlerisch. Sie ging mit offenen Augen und Armen durch die Welt, die sie sich gemacht hatte. Greta Baladier hatte mit ihren 30 Jahren einerseits die Aura eines Mädchens, das Aussehen, die Stimme, die Bewegungen. Andererseits konnte man spüren, wenn man ihr genauer ins Gesicht sah, dass sie früh erwachsen geworden war. Sie wirkte meist wie von einem über die Jahre gewachsenen Schutzfilm umgeben. Matthias hatte von Gretas Familiengeschichte auch schon vor dem French-Open-Zwischenfall vom vergangenen Sommer gewusst. Aber sie hatten nie viel darüber gesprochen. Was hätte es schon zu sagen
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