Laurins Vermächtnis (German Edition)
gegeben: Abkömmling einer solchen Sippschaft zu sein war einfach übel, und Greta hatte das einzig Mögliche getan, um sich zu schützen: Sie hatte ihre Eltern wie einen Tumor von sich abgeschnitten. Natürlich fehlte ihr das, was „Familie“ für andere Menschen – für Matthias zum Beispiel – bedeuten konnte, aber erstens hatte sie ja nicht wirklich die Wahl gehabt und zweitens hatte sie sich beigebracht, auch ohne das zu leben.
Matthias fröstelte.
Gab es möglicherweise Ähnlichkeiten zwischen seiner und Gretas Familiengeschichte? Natürlich, seine Eltern waren bis zu ihrem frühen Unfalltod vor 18 Jahren brave Leute gewesen und seine Großeltern gewiss keine Nazis – zumindest nicht mehr als praktisch alle, die dem Regime nicht aktiv Widerstand geleistet haben. Aber was in drei Teufels Namen sollte Adolf Eichmann im Jägerhof zu suchen gehabt haben? Welche Verbindung soll es zwischen seinem Großvater und der SS und Reichsbankgold gegeben haben? Und was hatte seine Großmutter andeuten wollen, als sie an ihrem letzten Abend sagte, kein Mensch lebe sein ganzes Leben tadellos?
Matthias fürchtete sich vor den Antworten auf diese Fragen und trotzdem spürte er weiter dieses seltsame Wohlgefühl, mit dem er aufgewacht war. War es Greta, war es die Sonne, die durchs Fenster schien, war es vielleicht sogar die Vorfreude auf die Motorradtour, die er am nächsten Tag mit vier Gästen unternehmen würde, die erste des neuen Jahres? Das wohl alles auch, ja. Aber ausschlaggebend war etwas anderes, wie Matthias in diesem Moment klar wurde: Er hatte eine Entscheidung getroffen, die Entscheidung, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Er würde Fragen beantworten, Rätsel lösen, Wahrheiten ins Auge sehen und er würde, da war er sich ganz sicher, Greta an seiner Seite haben.
Greta war ganz leise und ohne sich zu rühren aufgewacht. Matthias bemerkte es nur, weil sie jetzt noch tiefer atmete und sich ihre Brustwarzen unter seinen Händen aufrichteten.
Aufwach-Sex nannte Greta das, wenn sie miteinander schliefen, noch bevor einer auch nur ein einziges Wort gesagt hat. Und am besten war es, wenn sie vorher noch nicht einmal die Augen aufgemacht hat.
Matthias küsste Greta auf den Hals, schlüpfte aus dem Bett und ging unter die Dusche. Er stellte das Wasser so heiß, wie er es gerade noch aushalten konnte, schloss die Augen und dachte über den Tag nach. Als Erstes musste er Greta erzählen, was sich seit Samstagabend ereignet hatte.
Sie schien das genauso zu sehen. Jedenfalls hockte sie, als Matthias aus dem Bad zurückkam, aufrecht im Schneidersitz auf dem Bett.
„Also, erzähl‘“, sagte Greta, „was war gestern los?“
Und Matthias erzählte - von seinem Gespräch mit Nonna, vom Streit mit Rainer und der seltsamen Unterhaltung mit seinem Freund Paul. Das Treffen mit Anna im Weinkeller erwähnte er nicht; er fand, es habe keine Bedeutung gehabt.
„Mmh“, sagte Greta, als Matthias geendet hatte.
„Was heißt ‚Mmh‘?“
„Na ja, das klingt alles – wie soll ich sagen? – überraschend.“
„Überraschend?“
„Ich könnte auch sagen: ‚schockierend‘ – Deine Großeltern waren mit den Nazis verbandelt.“
„Jetzt mach‘ mal halblang!“ Matthias wurde ungehalten. „Ja, es könnte sein, dass sie vielleicht in irgendwas hineingezogen worden sind, mehr aber doch wohl wirklich nicht.“
„‘Hineingezogen‘? So sehr, dass sie Adolf Eichmann bei sich aufgenommen haben? Fünf Jahre nach dem Krieg?“
Matthias verdrehte die Augen. Das Gespräch nahm eine Wendung, die ihm nicht gefiel. „Hör‘ doch zu, wenn ich mit Dir rede! Ich habe gesagt, dass es ein Pfarrer war, der Eichmann zu Jägerhof gebracht hat und dass er meinen Großvater ganz offensichtlich unter Druck gesetzt hat.“
„Entschuldige, Du hast recht“, lenkte Greta ein. „Es ist nur einfach so ... widerlich, die Vorstellung, dass Deine Großeltern was mit den Nazis – wie soll ich sagen? – na ja ... eben – zu tun gehabt haben?“
„Ja, das ist wohl war“, sagte Matthias. „Was soll ich denn jetzt Deiner Ansicht nach tun?“
„Ich weiß nicht. Ich muss das erst mal verdauen und nachdenken. Sei mir nicht böse; können wir später weiterreden?“
„Ja klar“, sagte Matthias, zögerte kurz, gab Greta dann einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer.
Greta stand auf, setzte sich an den Schreibtisch und schaute aus dem Fenster. Sie wunderte sich, dass die Nachricht über mögliche
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