Laurins Vermächtnis (German Edition)
als Matthias Jäger plötzlich der Hafer stach. Er fragte schnippisch: „Und sonst – bist du fit?“
„Wie?“
Rainer hielt inne und drehte sich noch einmal um. Er wirkte verärgert. Das Gespräch gerade eben war seine Choreographie gewesen und die war reibungslos über die Bühne gegangen. Was sollte jetzt diese Frage?
„Na ja“, sagte Matthias, „hast ja wahrscheinlich nicht so viel geschlafen“
Rainer zog die Stirn in Falten und versuchte, schlau aus den Worten seines Bruders zu werden. Wie kam der auf die Idee, er habe nicht viel geschlafen, und was sollte überhaupt diese seltsame Fröhlichkeit?
Jetzt erst wurde Matthias bewusst, dass er drauf und dran war, sich in eine schwierige Situation hineinzuschwätzen. Selbstverständlich wollte er im Moment nicht herausrücken mit der Information, dass er Rainer mitten in der Nacht in der Bibliothek beobachtet hatte. Wie konnte er nur so trottelig sein?
„Ach, vergiss‘ es“, sagte er. „Ich weiß ja, wie viel Du um die Osterfeiertage immer zu tun hast, warum soll‘s Dir dieses Jahr besser gehen?“
Das war zwar ein bisschen dünn als Erläuterung für Matthias‘ ungewohntes Interesse an der Schlafbilanz seines Bruders, aber Rainer schien es zu genügen.
„Du sagst es“, murmelte er und ging nun endgültig zurück ins Haus.
Matthias atmete auf. Er musste sich wirklich ein bisschen am Riemen reißen.
Während des restlichen Frühstücks dachte Matthias Jäger an seine Freundin, den wunderbaren Aufwach-Sex und ihre harsche Reaktion auf das, was er ihr erzählt hatte. Sie würden wirklich noch einmal in Ruhe reden müssen. Anschließend machte er sich auf den Weg ins Büro, um die Motorradtour des kommenden Tages vorzubereiten.
Der Schreibtisch im Büro des „Jägerhofes“ war ein beeindruckendes Möbel: massives, rotbraun gebeiztes Holz, mehr als zwei auf einen Meter groß. Mittig unter der blank polierten Tischplatte hatte er eine lange, niedrige Schublade und auf beiden Seiten jeweils drei Schubfächer. Sie waren kaum breiter als ein DIN-A4-Blatt, aber so hoch, dass man Ziegelsteine in ihnen hätte aufbewahren können. Matthias Jäger hatte sich nie für den Inhalt des Schreibtisches interessiert; Rainer bewahrte darin wahrscheinlich Hotelunterlagen auf, vielleicht auch Privatkram. Sie hatten es nie ausdrücklich vereinbart, aber der Schreibtisch war Rainers Reich und Matthias akzeptierte das. Wenn er Motorradtouren ausarbeitete oder seinen Unterricht an der Volkshochschule vorbereitete, benutzte er meist einen Sofatisch und einen Sessel im hinteren Bereich des Büros, in dem er einen Regalmeter für sich reserviert hatte. Manchmal setzte er sich zum Arbeiten auch in die Bibliothek. Das waren angenehme Plätze, um sich aufzuhalten, und doch fehlte Matthias ab und zu ein „richtiger“, eigener Arbeitsplatz. Der einzige wirklich private Bereich, der ihm im ganzen Haus zur Verfügung stand, war sein Zimmer; es war geräumig und schön, aber letztlich doch nicht viel mehr als eine – wenn auch edel ausgestattete – Studentenbude.
Matthias stand vor „seinem“ Regal und holte die Motorradkarten heraus, die er seit dem Herbst nicht mehr in der Hand gehabt hatte. Er wollte den vier Gästen, die sich für die Tour des nächsten Tages angemeldet hatten, eine Strecke anbieten, die man, inklusive ausführlicher Brotzeitpause, gut an einem Tag fahren konnte. Trotzdem sollten möglichst viele Pässe und Kurven auf dem Weg liegen. Sein Blick fiel auf den Schreibtisch. Die Messingbeschläge an den Schubladen glänzten in der Sonne, die von rechts durch das Fenster schien. Die Beschläge der Schlüssellöcher und die Griffe waren jeweils aus einem Stück geschmiedet, die Oberflächen aufwändig ziseliert. In der obersten Schublade auf der linken Seite steckte ein einzelner, grober Schlüssel. Die Reide war sechseckig und als Blumenornament gearbeitet. Matthias musste lächeln. Er hatte ein Faible für seltene Wörter; manchmal brachte er seinen Schülern im Kurs „Deutsch als Fremdsprache“ Vokabeln bei, mit denen sie mutmaßlich auch Muttersprachler beeindrucken konnten – „Reide“ war so ein Wort. Eine Reide ist das Endstück eines Schlüssels, also der Teil, den man zwischen die Finger nimmt, um den Schlüssel im Schloss zu drehen. So aufwändig gearbeitet die Reide in diesem Fall war, so simpel war die Mechanik, die dieser Schreibtischschlüssel in Bewegung setzte. Matthias vermutete, dass er in jede der Schreibtischschubladen passte. An
Weitere Kostenlose Bücher