Laurins Vermächtnis (German Edition)
solch alten Möbeln, ebenso wie an antiken Zimmertüren, konnte man sehen, woher das Wort „Schlüssel-Loch“ stammte: Es sind, anders als bei modernen Schlössern, tatsächlich Löcher – sie haben mehr oder weniger die Silhouette einer Mensch-ärgere-Dich-nicht-Figur. („Und sie sind so groß, dass man seinen Bruder durch eine geschlossene Tür hindurch beobachten kann“, dachte Matthias). Wenn man nur lang genug stocherte, konnte man ein solches Schloss wahrscheinlich mit jedem länglichen Metallstück öffnen.
Matthias wandte seinen Blick wieder dem Regal zu. Er stapelte die Motorradkarten zu einem Päckchen, dem er sich gleich in der Bibliothek widmen würde. Dann hielt er kurz inne; es war ein irritierendes Gefühl, wie wenn ihm etwas im Augenwinkel hängen geblieben wäre. Er blickte wieder zurück zum Schreibtisch. Da war es – seltsam, dass es ihm nie zuvor aufgefallen war: Der Tisch hatte sieben Schubladen, sechs davon hatten diese für antike Möbel oder alte Türen charakteristischen kegelförmigen Schlüssel-Löcher, nur eine – die unterste auf der rechten Seite – sah anders aus. Ihr Beschlag hatte in der Mitte eine kreisrunde Aussparung – etwa so groß wie ein 10-Cent-Stück, und darin befand sich ein modernes Zylinderschloss, wie man es normalerweise bei Haus- oder Wohnungstüren hat. Matthias Jäger starrte diese Schublade an. Warum hatte sie ein neues Schloss? Das Ursprüngliche mag ja vielleicht irgendwann einmal kaputt gegangen sein, aber wäre es nicht naheliegend gewesen, es zu reparieren oder gegen ein anderes altes Schloss auszutauschen? Abgesehen davon – dieses einzelne moderne Zylinderschloss sah an dem antiken Schreibtisch so unpassend aus wie grüne Schuhbänder an schwarzen Lackschuhen. Das passte kein bisschen zu Rainer Jägers ausgeprägtem Sinn für Ästhetik.
Matthias ging die paar Schritte vom Regal zum Schreibtisch, kniete sich davor und legte den Stapel Motorradkarten neben sich auf den Boden. Das Zylinderschloss in der rechten unteren Schublade war perfekt eingepasst, die kreisrunde Aussparung im Beschlag akkurat und sauber. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, am Griff der Schublade zu ziehen; sie war verschlossen, was ihn nicht wunderte. Wieder hatte er das Gefühl, dass hier etwas faul war, so wie in der vergangenen Nacht, als er seinen Bruder beim Teppichschrubben beobachtet hatte.
Durch ein Schlüsselloch.
Er hätte gerne in den anderen Schubladen und auf dem Schreibtisch herumgestöbert, aber zu groß war die Gefahr, dabei von Rainer ertappt zu werden. Also griff er sich seine Motorradkarten und machte sich auf den Weg in die Bibliothek. Der ominösen Schreibtischschublade könnte er ja vielleicht bei anderer Gelegenheit einmal auf den Grund gehen. „Nein – nicht vielleicht“, dachte er – „auf jeden Fall!“
Matthias Jäger setzte sich mit den Unterlagen für die Motorradtour auf dasselbe Sofa, auf dem er vor einem Tag seinem Bruder gegenübergesessen hatte. Ihm war, als wäre seitdem viel mehr Zeit vergangen.
Die Tour, die er am nächsten Tag mit den Gästen fahren wollte, war für ihn die erste dieses Frühlings. Er freute sich schon darauf. Die wenigen kurzen Strecken, die er im Winter gefahren war, so weit es das Wetter eben zuließ, bewahrten ihn und seine Maschine lediglich vor dem Einrosten.
Eine Schönheit, überlegte sich Matthias und dachte an Manfredo Fratelli, war seine BMW R 1200 GS tatsächlich nicht: gelb-silber, viele Ecken und Kanten, viel sichtbare Technik. Zwar nicht wie eine dieser japanischen Maschinen, die einem Manga-Comic entsprungen scheinen, aber eben auch gar nichts Schmeichelndes. Andererseits: Es war die perfekte Reise-Enduro, eine Referenz-Maschine in ihrer Klasse, gegen die auch der größte Mäkler nichts wirklich Handfestes sagen konnte. Das war doch was, oder?
Eine Tagesetappe sollte es werden, die nicht zu lang würde, aber trotzdem anspruchsvoll war. Wenn man von Tiers aus Richtung Osten fährt und dann dem Verlauf der Straße nach Süden folgt, erreicht man bereits nach elf Kilometern den Scheitelpunkt des Nigerpasses. Gerade mal losgefahren und schon 750 Höhenmeter überwunden – das würde seinen Gästen gefallen. Und dann noch mal ein paar Kilometer weiter auf der Rosengartenstraße Richtung Süden auf den Karerpass – perfekt!
Matthias breitete eine der Karten auf dem Beistelltisch aus, um die ersten Markierungen zu machen. Dabei fiel sein Blick auf den roten Teppichboden.
In dieser Sekunde
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