Laurins Vermächtnis (German Edition)
hatte er wieder das Bild seines auf dem Boden knieenden Bruders vor Augen, das Bild des Hotelgeschäftsführers Rainer Jäger, der mitten in der Nacht mit einem Tuch den Teppich schrubbte. Und zwar gründlich, wie Matthias feststellte. Der Fleck an der Stelle, an der er im Streit mit Rainer seinen Kaffee verschüttet hatte, war spurlos verschwunden.
Matthias Jäger ließ seinen Blick schweifen. Er hatte früher nie darüber nachgedacht, aber jetzt fiel ihm auf, dass der rote Sisalbelag, der – abgesehen vom Bereich vor dem Kamin – fast den gesamten Boden der Bibliothek bedeckte, der einzige Teppich im ganzen Erdgeschoss war. Matthias kannte diesen Teppich schon seit seiner Kindheit. Es war sicherlich nicht derselbe, er musste im Lauf der Jahrzehnte das eine oder andere Mal ausgewechselt worden sein, aber er war immer rot und immer aus Sisal. Jetzt fiel Matthias auch wieder ein, dass der Teppich etwa einmal pro Jahr von einer Wäscherei abgeholt wurde. Während der zwei, drei Tage, die die Reinigung dauerte, war die Bibliothek dann immer abgeschlossen.
Warum eigentlich?
Und noch etwas fiel ihm auf: Der Teppich war an der rechten und der linken Seite jeweils mit einer Messingleiste im Boden verschraubt. Er war sich sicher, dass das am Morgen des vergangenen Tages noch nicht so gewesen war; die Leisten glänzten neu und waren völlig unverkratzt. Wer hatte das getan – gestern oder vielleicht heute – jedenfalls an einem Feiertag? Und warum?
Matthias Jäger ließ sich in das weiche Ledersofa sinken und schloss die Augen. Sah er Gespenster, oder ergaben mehrere für sich alleine nichtssagende Puzzleteilchen zusammengesetzt ein Bild, auch wenn ihm nicht recht klar war, welches?
Das alles zusammen war mindestens so seltsam wie das Zylinderschloss in Rainers Schreibtischschublade. Er musste über all das einfach noch mal in Ruhe nachdenken.
Aber nicht jetzt, nicht tagsüber, während Hotelgäste einerseits, sein Bruder andererseits durch das Haus spazierten.
Matthias klappte die ausgebreitete Karte wieder zusammen und legte sie mit dem Rest des Päckchens in eines der Bücherregale in der Bibliothek. Wenn er es recht bedachte, kannte er die Tour, die er sich für den nächsten Tag vorgenommen hatte, eigentlich auswendig. Außerdem gab es jetzt Wichtigeres zu tun.
Er ging nach oben, um seine Motorradklamotten zu holen. Greta hatte sich inzwischen geduscht und angezogen und stand am Fenster.
„Alles okay?“, fragte Matthias und nahm Greta von hinten in den Arm, wenn auch etwas flüchtig.
„Ja, ja, alles in Ordnung. Ich bin nur in Gedanken.“
„Ich drehe eine Runde zum Aufwärmen; bis heute Abend.“
In der offenen Tür hörte Matthias seine Freundin noch sagen:
„Viel Spaß, pass‘ auf Dich auf.“
Sie klang geistesabwesend.
Das lila Auto stand immer noch auf der anderen Straßenseite.
Während Greta aus dem Fenster schaute, näherte sich ein Mann dem Wagen. Er war schlaksig und strohblond. Er trug Wanderschuhe, eine braune Breitcordhose und ein grobes Jackett mit Lederapplikationen an den Ellenbogen. Die Jacke sah aus wie ein Modell aus einer Zeitschrift, die „Jagd und Hund“ heißen könnte. In der Hand trug er eine schwarze, schmale Aktenmappe. Ein komisches Utensil für einen Urlaub in den Bergen, dachte Greta.
In der Tat: Das lila Auto gehörte dem Mann mit der Jagd-und-Hund-Jacke. Er öffnete den Kofferraum, legte die Aktenmappe hinein und holte eine Kamera mit einem ziemlich beeindruckenden Objektiv heraus. Dann ging er wieder weg.
Matthias Jäger hatte inzwischen seine Maschine aus der Hotelgarage geholt. Er stieg auf, startete den Boxermotor und bog nach links auf die Straße Richtung Bozen.
„Fratelli Moto“ lag in der Via Galvani im Süden der Stadt, einer mäßig attraktiven Gegend zwischen Flughafen und Messegelände. Manfredo Fratelli war hier fast immer anzutreffen, entweder unten im Laden, in der Werkstatt nebenan oder der kleinen Wohnung darüber.
„Ciao, Mattes. Hast Du kein Zuhause, oder warum treibst Du Dich die ganzen Feiertage immer irgendwo herum?“
„Kein Zuhause?“ Matthias Jäger, der in seiner Lederkombi und dem Helm unter dem Arm in der Tür der Werkstatt stand, schnaubte kurz und verzog das Gesicht. „In der Tat – keine schlechte Frage.“
„Jetzt echt“, sagte Manfredo und legte den Auspufftopf, den er gerade in der Hand gehabt hatte, auf die Werkbank. „Gestern hast Du Dich von mir auf den Wandererparkplatz nach Ums fahren lassen. Du hast Dein
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