Laurins Vermächtnis (German Edition)
sich ein M.G. eingenistet. Ist sehr unangenehm ... Zur Bekämpfung des M.G. dürfte es angezeigt sein, ... eine Handgranatenpatrouille zu entsenden, welche das feindliche Gewehr von oben mit Handgranaten bewirft.‘“
„Ich kenne diesen Bericht“, sagte Matthias, „das ist wirklich abartig. Mein Großvater hat mir erzählt, dass die Österreicher sich tatsächlich an Seilen herabgelassen haben, und dann, frei in der Luft hängend, Handgranaten auf die italienischen Maschinengewehrschützen geworfen haben. Und das Wahnsinnige war, nichts, kein Angriff, kein Gefecht, nicht einmal ein solches Himmelfahrtskommando, hat den einen oder den anderen irgendeinen militärischen Vorteil verschafft. Deswegen haben sie irgendwann angefangen, Tunnel zu graben und sich gegenseitig in die Luft zu sprengen.“
Matthias schaute auf das Büchlein auf Christoph Herbsts Schoß.
„Darf ich mal?“
Christoph reichte Matthias die Broschüre.
„Irgendwo da steht auch was über die Sprengungen ... Hier, ich hab‘s – 22. Mai 1917: Die Österreicher jagen mit 24 Tonnen Sprengstoff einen italienischen Bunker in die Luft. Ein Soldat hat das später aufgeschrieben: ‚Die Felsen barsten. Umher schossen häusergroße Blöcke, Wände sanken um wie ein Bücherstapel. Menschenleiber, Köpfe, Beine, Arme flogen empor – eine grausige Himmelfahrt.‘“
„Sagt mal Jungs, geht‘s noch?“
Elena sah Matthias und Christoph an und schüttelte den Kopf.
„Es schüttelt Euch ja richtig vor blutigem Schauder. Diese gruselige Faszination fürs Kämpfen und Sterben – das muss was Genetisches sein, so ein Männerding.“
Die beiden Männer schauten sich betreten an.
Da war durchaus was dran, dachte Matthias. Schon kleine Jungs zeigten stolz ihre Narben, und die besten Geschichten waren die, in denen der Held ordentlich was abbekam und mindestens einmal in Lebensgefahr geriet.
Matthias Jäger starrte in den Schnee und fragte sich, wie wohl das Leben der Soldaten, die den Dolomitenkrieg überlebt haben, weitergegangen sein mag. Wie viele von denen, die das Grauenhafteste, Niederste und Hässlichste erlebt haben, werden danach ihren Frauen gute Männer und ihren Kindern gute Väter geworden sein? Wie sollte das, was an den Fronten dieses Krieges und aller anderen Kriege geschah, die Seele der Beteiligten nicht zerstört haben? Und wie sollten die, deren Psyche widerstandsfähig genug war, um halbwegs gesund zu bleiben oder sich später zu erholen, wieder eine Grundlage in ihrem Leben finden? Als Jugendlicher hatte Matthias Jäger „Im Westen nichts Neues“ gelesen. Erich Maria Remarque ließ darin seinem Protagonisten, dem 18-jährigen Soldaten Paul Bäumer, folgenden Gedanken durch den Kopf gehen:
„Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist! Es muss alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, dass diese Ströme von Blut vergossen wurden.“
Matthias riss sich los von seinen Gedanken, sah zu den anderen und sagte: „Wie schaut‘s aus, wollen wir weiter?“
Sei es, dass Christoph Herbst, Ralf Lissmann und Elena Galanis ihren eigenen Gedanken nachhingen, sei es, dass sie bemerkten, wie sehr Matthias Jäger vorübergehend in sich versunken war – jedenfalls sagten sie nichts außer, „Mmmhh“ und „Klar“ und gingen ansonsten wortlos mit zur Seilbahn, die sie zur Talstation und zu ihren Motorrädern brachte.
Gegen sieben Uhr am Abend waren die Fünf wieder zurück beim Jägerhof. Die Herbsts, Elena und Ralf Lissmann bedankten sich bei ihrem Gastgeber für die Tour – Elena mit einem Küsschen auf die Wange – und verschwanden im Haus.
Matthias setzte sich noch für ein paar Minuten auf das Mäuerchen, das die vordere Terrasse von der Straße abgrenzte und schaute auf den sich langsam rötlich färbenden Rosengarten. Er fragte sich, in welchem psychischen Zustand sein Großvater wohl aus dem Krieg zurückgekehrt sein mochte.
Eine Besonderheit in seinem Fall war, dass er heimkam, als der Krieg noch lange nicht vorbei war. Nach dem Sturz Mussolinis im Herbst 1943 wurde Südtirol Teil der von den Deutschen neu eingerichteten „Operationszone Alpenvorland“ und dorthin hat die Wehrmacht den Leutnant Karl Jäger versetzt – konkret gesagt: in seinen Heimatort, Tiers am Rosengarten. Ein Zufall dürfte das kaum gewesen sein, aber der Enkel hat seinen Großvater nie nach den genaueren Gründen gefragt; es schien ihm einfach
Weitere Kostenlose Bücher