Lauter Bräute
vorstellen, wie Helen aussehen wird. Vielen Dank, Miß Evans, das war sehr nett von Ihnen.«
»Gern geschehen, Lucy.«
Sie bedachte mich mit einem kleinen, ernsthaften Lächeln und ging schnell davon, mit wippendem Pferdeschwanz; und fast direkt an meinem Ohr sagte Kirkpatrick: »Na, Miß Evans? Haben Sie etwas verkauft?«
Ich fuhr ungefähr senkrecht in die Höhe, hatte ich doch keine Ahnung, daß er im Foyer umherlungerte und mich bespitzelte.
»Ehrlich gesagt«, fuhr er fort, »meinen Sie nicht, daß das eine rechte Zeitverschwendung war?«
»Ehrlich gesagt«, erwiderte ich, »es war völlige Zeitverschwendung. Aber wenn ein kleines Mädchen kommt und bittet, das Brautkleid seiner Schwester sehen zu dürfen, können wir ihr nicht sagen, sie soll sich davonscheren. Das ist nicht unsere Art.«
»Unsere?«
»Die Art der Abteilung Brautausstattungen«, gab ich zurück. »Oder Fellowes, wenn Sie so wollen. Wir versuchen, gelegentlich menschlich zu sein. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen?«
Er lief tomatenrot an. »Miß Evans —«
Ich hatte vergessen, daß er Mr. Dietrichs Schwager war; und im übrigen — was kümmerte es mich. Er war ein Etagenchef wie jeder andere, der sich mausig machte und der sich in meine Arbeit mischte. Gereizt sagte ich: »Entschuldigen Sie mich. Ich muß diese Sachen zurücktragen«, und damit nahm ich Helen Browns Kleid und Schleiergesteck und trug sie in den Frischhalter, wohin sie gehörten.
Zuguterletzt, und damit es ein runder Tag seiner Art wurde, erwartete mich beim Heimkommen ein Brief von Sam Hickock. Für gewöhnlich schrieben Sam und ich uns sonntags, und unsere Briefe kamen am darauffolgenden Dienstag an. Doch dieser Brief war am letzten Freitag geschrieben und Samstag zur Post gegeben, traf daher einen Tag früher ein als üblich.
Er umfaßte ungefähr sechs Seiten und erwähnte das Grundstücksgeschäft in Moberly/Massachusetts kein einzigesmal. Sam hatte beim Schreiben offenbar schwer mit sich gekämpft, und seine Gefühle spiegelten sich in jeder Zeile. Es lief darauf hinaus, daß er durchaus einsehe, wie wichtig mir meine Karriere sei; doch da er nicht länger warten wolle, einen Hausstand zu gründen und Familie zu haben, habe er Mary Privett einen Heiratsantrag gemacht, den sie angenommen habe. Mary Privett war ein ziemlich mausegraues Mädchen, dessen Vater eine Kette Eisenwarengeschäfte besaß. Unwillkürlich fragte ich mich, wie lange Sam Mary Privett wohl den Hof gemacht hatte, während er mir gleichzeitig seine wöchentlichen Briefe schrieb und mich seiner unverbrüchlichen Liebe und Verehrung versicherte. Nach einer Weile allerdings war ich recht froh, die Last Sam von den Schultern zu haben: ich brauchte ihm nie wieder Briefe zu schreiben; und um halb elf ging ich ins Bett und schlief den Schlaf der Gerechten.
8
Der Dienstagmorgen begann ganz groß. Um neun Uhr fünfundzwanzig, noch ehe das Geschäft offiziell geöffnet war, klingelte mein Telefon, und ich hörte Miß Keelers kühle, ferne Stimme: »Miß Evans? Würden Sie bitte herauf kommen in Mr. Carrolls Büro?«
Mir gefror das Blut in den Adern. »Sofort, Miß Keeler?«
»Ja.« Klick. Sie hatte aufgelegt.
Nun, da hatten wir’s. Die endgültig letzte Beschwerde mußte vorgebracht worden, der letzte Tropfen in Mr. Carrolls Kelch geflossen sein. Ich hatte zwei offizielle Verweise erhalten, einen weiteren konnte ich unmöglich überstehen.
Kirkpatrick war im Foyer und hütete die Zeitlisten, seine idiotische Stoppuhr in der Hand. Ich hatte schon gedacht, er wollte uns eine Atempause gönnen — gestern hatte er Miederwaren und Negliges unter der Knute gehabt. Aber, o nein: da war er, wieder an seinem alten Platz.
Als er meiner ansichtig wurde, sagte er munter: »Guten Morgen, Miß Evans.«
»Guten Morgen.«
Dann fuhr er fort: »Miß Banville kommt wie üblich zu spät.«
»Miß Banville?«
»Ja«, erwiderte er, »Miß Banville.«
»Sie verspätet sich nicht«, gab ich zurück. »Sie hat heute ihren freien Tag.«
Er starrte auf die Zeitlisten, als hätten die ihn irgendwie betrogen, und ich ging weiter, ohne daß mich dieser kleine Sieg über ihn besonders gefreut hätte. Alles in allem war er es höchstwahrscheinlich gewesen, der diese letzte Beschwerde bei Mr. Carroll vorgebracht hatte, so daß er derjenige sein würde, der zuletzt lachte. Wir lagen uns praktisch vom ersten Augenblick an in den Haaren, und er war ein viel zu starker Gegner für mich. Wer konnte schon hoffen, einen Sieg
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