Lautlos wandert der Schatten
frommen Menschen böse Tiere machen. Das Aufeinander-Angewiesensein
in der Gruppe, wie die lange Einsamkeit schafften menschliche Probleme mit
ungewissem Ausgang. Mir fiel an diesem ersten Schirokko-Tag der Hymnus zur Sext
im täglichen Brevier ein, den ich bislang achtlos gebetet hatte:
Die
Glut des Mittags treibt uns um,
die
Stunden eilen wie im Flug;
du,
Gott, vor dem die Zeiten stehn,
laß uns ein wenig bei dir ruhn.
Wir
atmen fiebrig und gehetzt,
der
Streit flammt auf, das rasche Wort;
in
deiner Nähe, starker Gott,
ist
Kühlung, Frieden und Geduld...
Bald
nimmt uns ein kühler Waldweg auf und bringt uns nach Bach. Der Ort wurde im 18.
Jahrhundert von einer gleichnamigen deutschen Familie gegründet. Die Bach’s,
stellen wir fest, haben im Ersten Weltkrieg aus begreiflichen Gründen
französische Namen angenommen; ihre deutschen sind noch auf den alten
Gedenktafeln in der Kirche zu finden. Zwei alte Damen führen auf der einen
Seite des Hauses einen bescheidenen Lebensmittelladen, auf der anderen ein mit
herrlich altem Möbel bestücktes Lokal. Mal bedienen sie auf der einen, mal auf
der anderen Seite. Uns bitten sie nach einem erfrischenden Trunk: „Betet für
uns in Compostelle!“ Das Weißbrot für den Weiterweg bringen sie uns
tiefgefroren.
In
L’Hospitalet haben wir bereits ein Viertel des Weges hinter uns gebracht. Grund
genug zum Feiern. Vom einstigen großen Pilgerhospiz, es gab dem Ort den Namen,
sind nur noch bescheidene Mauerreste und eine schöne romanische Apsis in der
Kirche erhalten. Doch, wie so oft auf unserem Weg: Die Kirche ist verschlossen,
niemand will so recht wissen, wer den Schlüssel in Verwahrung hält. Gras wächst
aus den Pflastersteinen vor dem Hauptportal; allzu oft wird einem hier nicht
aufgetan. Solche Enttäuschungen erlebt der Pilger öfter, in Frankreich wie in
Spanien. Verschlossene Kirchen; was soll’s? Der Pilger bleibt um so leichter
auf dem Weg. Auch die Kirchen sind nur Stationen.
Bei
Madame Paulette Daude wollten wir aus Anlaß der Wegviertelung eine Kleinigkeit
essen. Da geraten wir aber an die Falsche: „Wenn wir bei ihr schon nicht
richtig essen wollten“, schnarrt sie uns in ihrer beträchtlichen Körperfülle
an, „dann sollten wir es ganz bleiben lassen.“ Beleidigt entschwebt sie nach
oben in den Gastraum und wir entschließen uns angesichts dieser schlimmen
Drohung für ,richtig essen´ und klettern hinter ihr eine schmale Stiege hinauf
ins einfache Obergemach. Dort erwartet uns das
Menue
von Mme. Paulette
Bäuerliche
Gemüsesuppe
Honigmelone
mit Schinken
Leberpastete
mit Weißbrot
Kartoffeltopf
(mit Kartoffeln Zucchini, Tomaten, Zwiebeln,
Knoblauch
und Rindfleisch)
Hammelkotelett
mit grünem Salat
Käse
und Obst
Dazu
Rotwein, soviel wir wollen
Das
ist ein Pilgerleben, wie wir es uns für immer wünschen möchten. Madame Paulette
zeigt sich angesichts unseres ungeheuren Appetits, der mit den anwesenden
Fernfahrern und Landarbeitern mithalten kann, einigermaßen versöhnt und ist
auch mit der Rechnung gnädig. Doch wir müssen wieder hinaus in die Hitze; es
sind noch einige Stunden bis Montcuq. Der Durst treibt uns in Lascabanes zu
Robert Reitz und seiner Frau. In ihrem Blumenparadies werden wir bewirtet,
bekommen zum Abschied noch eine Honigmelone mit auf den Weg, und den Wunsch,
für den Frieden und die Freundschaft der Völker beim Apostel zu beten. Die
Familie Reitz hat zwei Söhne im Krieg gegen Deutschland verloren. Ein Enkel
studiert dennoch in München. Es gibt seltsame Wege, die auseinanderführen und
zusammenkommen. Merci bien, jedenfalls.
Wieder
Rast. Diesmal bei der Kapelle des hl. Johannes auf einer Anhöhe. Von der alten
Pilgeretappe, dichte Stände von Brennesseln verraten ein Gehöft, ist hier der
Brauch geblieben, sich ins Pilgerbuch einzutragen. Obwohl wir schon tagelang
niemand mehr auf dem Weg gesehen haben, sind sie doch unterwegs, die
Landstreicher Gottes: vor uns Pilger aus Köln, aus dem Saarland, aus den
Niederlanden, aus Belgien und Österreich, so steht es fein säuberlich mit guten
Wünschen für die Nachkommenden geschrieben. Wir tragen uns ein und wissen, nach
uns werden wieder Pilger kommen, vielleicht morgen schon. Der Strom reißt nicht
mehr ab, er wird größer, stärker. Ist da nicht im Rauschen der alten
Eichenbestände die Stimme des Jakobus zu hören? Wir gehen in der abendlichen
Sonne weiter. Lautlos ist der Schatten inzwischen wieder einmal um uns
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