Lautlos wandert der Schatten
arabischen Emirs fragte zum Beginn des 12. Jahrhunderts, als
er in Spanien die verstopften Straßen und die überfüllten Wege sah: „Wer ist
denn der große und berühmte Mann, zu dem sich die Christen von weither begeben,
um zu ihm zu beten?“ Jakobus, Gott weiß es warum, setzt ganz Europa in dieser
Zeit in Bewegung. Da gibt es politische Gründe, gewiß. Der traditionelle
Pilgerweg nach Jerusalem ist durch die Muslime versperrt; Rom hatte nie diese
Anziehungskraft auf die Menschen. Aber das erklärt nicht die Faszination, die
Santiago auf das ganze Abendland ausübt. Die Pilgerfahrt steckt an.
Selbst
in den harten Pestzeiten, in der ganze Siedlungen ausgerottet werden und sich
die Städte gezwungen sehen, ihre Tore vor Fremden zu verriegeln, ist die
Pilgerfahrt zum hl. Jakob nie ganz erloschen. Auch nicht im Hundertjährigen
Krieg. Erst die Reformation leert die Wege und die Hospize. Martin Luther war
kein Freund von Wallfahrten; zudem waren die Auswüchse und Mißstände in seiner
Zeit schon zu groß geworden. In dieser Zeit des Niedergangs, ein
Berichterstatter meint ironisch „da mehr Verbrecher unterwegs sind als fromme
Pilgersleute“, bestehen die Bruderschaften vom hl. Jakobus zwar noch weiter,
aber es ist längst nicht mehr erforderlich, die Wallfahrt persönlich zu
unternehmen, um Mitglied werden zu dürfen. Mit Geld läßt sich vieles ablösen,
auch die Strapazen eines langen Weges. Die Sitten lassen nach, so daß wieder
unser Berichterstatter schreiben kann: „Die Bruderschaften des Apostels Jakob
zeichnen sich mehr durch Schlemmereien als durch Frömmigkeit aus.“ In die
Ordenssatzung müssen deswegen Bestimmungen aufgenommen werden, die den Mitgliedern
den Besuch von Kaschemmen und Freudenhäusern verbieten. In Paris wird ein
Kleriker bestraft, weil er sich als Jakobusbruder im Priestergewand an solchen
Orten vergnügt hatte.
Wir
liegen unter den Sternen, die unberührt vom Allzumenschlichen ihre Bahn ziehen.
Der Schlaf will noch immer nicht kommen; zu viel hat der Tag gebracht an
Erfahrung, an Geschichten, an Erinnerung. Zu viel steht noch vor uns an
Erwartungen und Zweifeln. Wochen liegen jetzt hinter uns; Wochen vor uns. Unser
Lagerfeuer ist verklommen, da wird es auf einmal hell. Prachtvoll geht der
Vollmond auf. Die Sternstraße erlischt. Da schlafen und träumen auch wir in den
neuen Tag hinein, träumen vom Weg, von Menschen, von schlechten und guten;
träumen vom Apostel. El mejor camino, el recto. - Der beste Weg ist der
richtige. Ist unser Weg der bessere Weg, der richtige? Im Traum sagt uns der
Apostel: Sí y ultreya! - Ja, und macht weiter so!
Der
Traum
Ich
träume von einem Stern.
Ganz
hoch oben am Himmel steht er.
Sein
Strahl trifft auf mich
und
schneidet mich durch und durch.
Das
eine Ich
betrachtet
das andere,
und
fragt: wer bist du?
Wir
frösteln in der Morgenkühle. Zwischen Traum und Tag hat uns der Weg wieder.
Zweimal geht an diesem Tag für uns die Sonne auf; zweimal werfen wir einen
langen Schatten nach Westen: Oben, auf der Höhe unseres Nachtlagers und noch
einmal, als wir einen tiefen Einschnitt durchschritten haben und auf dem
schmalen Pfad aus seinem Dunkel auftauchen. Dann ziehen wir eine Weile am Río
Arga entlang und überholen drei Spanier, die am Ibañetapaß ihre Wallfahrt
begonnen hatten. Sie gehen unsicher und spüren an ihren Füßen, was wir schon
längst vergessen haben. Nach gut acht Stunden taucht Pamplona auf, die alte
Hauptstadt des Königreichs Navarra.
11
Die Stadt tötet den Weg,
nur der Pilger kann ihn retten
V ermutlich
ist es den Pilgern früher genauso gegangen wie uns. Nach einem langen und
einsamen Weg, wirkt die große Stadt mit ihrem lauten und quirrligen Leben
aufdringlich, gefährlich, abstoßend. Die Stadt tötet den Pilgerweg, heißt es
deswegen. Viele Pilger sind an den Städten gescheitert und verkommen, sie haben
die Wallfahrt nach langen Entbehrungen ob des süßen Lebens und der Verführung
durch die Stadt aufgegeben; manche hatten noch die Kraft, umzukehren; andere
sind ganz einfach geblieben. So ging es auch einem Niederländer, den wir
überholt hatten. Obwohl er eigentlich weiterziehen wollte, entschied er in
Pamplona den Pilgerweg abzubrechen, weil „die Verkehrsverbindungen nach Hause
so günstig“ waren, wie er meinte. Das war noch der harmloseste Grund zum
Beenden des Weges.
In
solch kritischen Situationen ist auch der Pilger nur ein Mensch. Streit,
Trunkenheit, Totschlag als Folge,
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