Lautlos wandert der Schatten
In der Unterkunft starb die Frau und der Wirt beschlagnahmte für
seine angeblichen Kosten nicht nur das Pferd, das die beiden Kinder trug; er
nahm dem Mann auch das ganze Geld ab, das er besaß. Der Vater wollte seine
Kinder auf den Schultern ins ferne Galizien tragen. Unterwegs begegnete ihm ein
Mann, der seinen Esel für das Unternehmen zur Verfügung stellte. Am Grabmal des
Apostels angelangt, erkennt er im Bild den gleichen Mann wieder, der ihm den
Esel geliehen hatte. Der sagte: „Ich bin der Apostel Jakobus. Ich leihe dir den
Esel auch für die Heimkehr. Doch wisse, der Wirt in Pamplona ist tot, und du
wirst dort alles, was dir gehört, zurückbekommen.“
Wir
zogen auf Schusters Rappen aus der Stadt und verfehlten im Gewirr der Straßen
den richtigen Weg. Am Ende hatten wir uns in den riesigen Neubauvierteln
hoffnungslos verfranzt. Schließlich fanden wir uns zwischen gewaltigen
Baumaschinen wieder, die für die Stadt einen neuen Flughafen fertigstellen. Es
war mühsam, die frisch geschobenen Startbahnen zu überqueren, und es dauerte
lange, bis wir bei Cizur Menor wieder auf dem richtigen Weg waren. Nach fast
fünf Stunden Umweg, hinauf auf den Alto de Perdón. Weit öffnet sich auf der
Höhe der Blick über das Grün und das Gelb der Hochebene. Ein scharfer Wind
empfängt uns. Es wird spät, bis wir hinter Obanos das Denkmal erreichen, das
die Zusammenkunft aller vier Jakobuswege zu einem anzeigt. Eine große Figur des
Apostels aus Kupferblech weist uns weiter nach Westen. Wir beschließen, den
Camino in Puente la Reina mit dem Apostel gebührend zu feiern: Frühstück und
Mittagessen fallen heute zusammen.
Puente
la Reina, die kleine, aber für den Pilger wichtige Stadt, hat ihren Namen von
der Brücke, die sich als Stiftung der Königin Dona Estefania seit dem 11.
Jahrhundert über den Río Arga spannt. Wir grüßen den Apostel in seiner Kirche;
gut zwei Meter ist er groß und aus bemaltem Holz. Sein Kopf ist schwer,
ausdrucksvoll das Gesicht, umrahmt von einem mächtigen Bart. Nach alter
Überlieferung trägt er den Pilgerstab und die Bibel, auf seinem Hut drei Muscheln.
Wer diesen Jakobus in Puente la Reina gesehen hat, weiß, nur so und nicht
anders kann der Apostel ausgesehen haben. Von diesem Urbild leben viele
Jakobuszeichen auf dem Weg. Wir freuen uns, angesichts dieser milden und
wissenden Augen auf die Begegnung mit ihm in Santiago de Compostela. Aber noch
ist es weit...
Wir
gehen nach der Mittagspause durch die Calle Mayor mit ihren schönen
Adelspalästen direkt auf die berühmte Ponte Regina zu, die in sechs Bogen den
grünen Arga überspannt. Mit einem unbeschreiblichen Gefühl, fast
ehrfurchtsvoll, überschreiten wir den Fluß, der im Sommer nur wenig Wasser
führt. Seit über 900 Jahren trägt diese Brücke; jetzt ist sie glücklicherweise
nur noch für Fußgänger offen. Die Jakobuspilger sangen beim Überqueren des Arga
einen Psalm zum Dank für die königliche Brückenbauerin:
„Hätte
sich der Herr nicht für uns eingesetzt,
dann
hätten uns die
Wasser weggespült,
hätte
sich über uns ein Wildbach ergossen.
Dann
hätten sich über uns die Wasser ergossen,
die
wilden und wogenden Wasser.
Gelobt
sei der Herr... “ (Ps 124)
Doch
für uns beide galt eher das Wort von Refrán: „Antes que acabes, no te alabes“ -
Lobe dich nicht, bevor du fertig bist. Über wieviele Brücken mußten wir noch
gehen?
Nach
einer guten Wegstunde kommen wir in der Mittagshitze nach Mañeru, einem kleinen
Dorf inmitten einer biblischen Landschaft, geprägt von Weizenfeldern und
Weinbergen. Dort nötigte uns der Bauer Nicanor, in seinem Keller bei vino tinto
und Weißbrot Siesta zu machen. „Kein Mensch ist bei dieser Hitze auf dem Weg!“,
sagte er bestimmend. Nicanor, ein Männlein von etwa siebzig Jahren, pflegt seit
vielen Jahren in seinem Bezirk die Markierung des Camino und hat selbst schon
einige Male die Wallfahrt nach Santiago gemacht. Für ihn sind das immerhin noch
gute 600 Kilometer. Stolz präsentiert er uns seine Auszeichnung, eine silberne
Muschel. Ins Pilgerbuch schreibt er uns: „Unter dem Kreuz Christi sind wir alle
auf dem Weg.“ Unser Weiterweg besteht heute eher in der Schwierigkeit, mit den
Folgen des Rotweins fertig zu werden.
Der
Weg, den Nicanor hervorragend durch Felder und Weinberge ausgezeichnet hat,
führt uns nach Estella, einer betriebsamen und geschäftigen Stadt. Hier gibt es
aus unerfindlichen Gründen so etwas wie Hetze. Die
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