Lautlos wandert der Schatten
oben bis unten mittendurch
gespalten hat. Dann gelangt man in den Ort Roncesvalles, wo einst die große
Schlacht stattfand, in der König Masirius, Roland, Oliver und vierzigtausend
andere christliche und sarazenische Kämpfer getötet wurden.“
In
Roncesvalles herrscht reger Ausflugsbetrieb, 25 000 Pilger und Ausflügler
jährlich, der uns in die Stille des Klosters flüchten läßt. Der erste Eindruck
ist allerdings enttäuschend. Grau in grau sind die Mauern des Klosters, das
1127 gegründet wurde und in fast 1000 m Höhe liegt. Doch die Anlage ist gut
gepflegt; die Unterkunft ist sehr ordentlich, leichtsinnigerweise verschmähen
wir das Gastrecht durch den Hospitalero. Es ist noch früh am Tag, deswegen
wollen wir weiter. Vom Hospiz der Mönche schreibt ein alter Bericht: „Die
Kranken liegen in weichen, schön ausgestatteten Betten. Keiner zieht weiter,
ohne kostenlos behandelt worden zu sein und ehe er wieder ganz gesund ist. Die
Pilger finden dort mit Wasser gereinigte Zimmer vor. Und wer darum bittet,
seinen Körper zu reinigen, erhält unverzüglich ein
Bad“.
Die Hygiene wurde bei den Pilgern nicht immer groß geschrieben; mancherorts
mußte das Bad zwangsweise genommen werden, bevor einer Zutritt zum Nachtlager
bekam. Das Ungeziefer nahm gelegentlich so überhand, daß schlichte Unterkünfte
einfach abgebrannt wurden. Dennoch klagen Pilger: „Da war kein Auge zuzumachen,
so wurden wir bis zum Tagesanbruch gequält. Als die Plagegeister sich
zurückzogen, war es schon Zeit zum Weitergehen.“ Der Berichterstatter hatte
offenbar mit Wanzen nähere Bekanntschaft machen müssen.
Die
Mönche von Roncesvalles gründeten einen eigenen Orden zur Versorgung der Pilger
und behüteten zugleich die heiligen Stätten, die an Karl den Großen und an
seinen getreuen Vasallen Roland bis zum heutigen Tag erinnern. Unklar ist uns
geblieben, warum ausgerechnet diese frommen und einsatzbereiten Männer als die
„mürrischen Mönche von Roncesvalles“ in die Pilgergeschichte eingegangen sind.
Dieses Vorurteil wird noch heute weitererzählt. Wir treffen an diesem Festtag
zur Siestazeit keinen der ehrwürdigen Brüder. Deswegen war es auch sehr
schwierig, den berühmten Stempel des Ordens zu bekommen. Aber die „Mürrischen“
hatten nicht mit der Ausdauer und der Hartnäckigkeit fränkischer Pilger
gerechnet. Das Zeichen des Ordens ist die sinnreiche Verbindung von Krummstab,
Kreuz und Schwert, die drei Aufgabenfelder der Gemeinschaft: Verkündigung des
Evangeliums, Schutz des Pilgerweges und Verwaltung des Klostergutes.
Wir
besuchen in der gotischen Kirche von Roncesvalles die Muttergottes mit ihrem
Kind; sie ist von Engeln umgeben, die große Muscheln tragen. Es sind allerdings
nicht die Jakobsmuscheln, sondern die Symbole der Jungfräulichkeit. Wie nach
der mittelalterlichen Vorstellung die Muschelschnecke durch den Tau befruchtet
wurde, so ist der heilige Geist einst über Maria gekommen; auf diese Weise
konnte sie Mutter und Jungfrau zugleich sein. Die Legende erzählt, daß das in
Silber gefaßte Bild Anfang des 10. Jahrhunderts nach wunderbaren Erscheinungen
aufgefunden wurde: Ein Hirsch, an dessen Geweih zwei Sterne schimmerten, führte
mehrere Schäfer zu einer verborgenen Quelle, aus der eine himmlische Musik
erklang. Hier habe dann der benachrichtigte Bischof von Pamplona das Gnadenbild
entdeckt. In Wirklichkeit ist das Bild der Madonna mit Kind und
Edelsteinblütenzweig, ein wunderschönes Werk, erst um 1300 entstanden.
Wir
ziehen nach diesem kurzen Aufenthalt bei der „Königin der Pyrenäen“ weiter. Die
sagenhaften Schätze des Klosters interessieren uns nicht allzu sehr: Ein paar
Dornen aus der Leidenskrone Christi, das Schachbrett Karls des Großen (in
Wahrheit ein altes Reliquiar), die Streitaxt des getreuen Roland, sogar die
Pantoffeln des Erzbischofs Turpin, könnten besichtigt werden. Eine
breitangelegte Kapelle am Rande des Klosterbezirks birgt die Überreste der
Vierzigtausend, die in der Schlacht am 15. August 778 hier gefallen sind.
Wieder einmal wollte es der Zufall so, daß wir auf den Jahrestag genau hier
angekommen waren. Gleich nach dem „Silo de Carlomagno“ beginnt der Camino, der
Jakobusweg auf spanischem Boden; jetzt nimmt die Zahl der Pilger zu, weil viele
Spanier und auch Franzosen ihren Weg erst hier beginnen. Für über 700 lange
Kilometer weist uns der gelbe Pfeil die Richtung nach Santiago.
Hier
bei Roncesvalles erschien Karl dem Großen der Apostel
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