Lautlos wandert der Schatten
Stadt ist übervoll mit
Touristen, vielleicht haben sie die Unruhe mitgebracht, die wir leibhaftig
verspüren. Schon in früheren Zeiten war Estella berühmt „durch gutes Brot,
vorzüglichen Wein, Überfluß an Fleisch und Fisch“. Wir haben Mühe, von alledem
wenigstens etwas zu finden und müssen uns hier mit der teuersten Unterkunft auf
dem ganzen Weg abfinden, wenn wir nicht auf der schmutzigen Straße übernachten
wollen. Ein wunderschöner Kreuzgang von San Pedro de la Rúa und das eindrucksvolle
Portal der Kirche vom hl. Grab entschädigen uns für den ersten schlechten
Eindruck. Von San Miguel aus gewinnen wir dann einen Überblick über das Gewirr
der Stadt, die sich an den Fluß Ega anschmiegt, als hätte sie von ihm das ganze
Leben. Die Peterskirche im Herzen der Stadt ist ringsum eingerüstet; deswegen
hat sie für uns keine Botschaft bereit. Auf der anderen Seite des Ega liegen
die Paläste des Adels, vor allem die Residenz der Könige von Navarra. Wir geben
uns nicht viel Zeit für diese Stadt, die angeblich den Geist des Apostels
Jakobus atmet. Nicht einmal einen leisen Hauch bekommen wir zu spüren. Ultreya.
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Wenn die Füße nicht mehr
wollen , macht
sich
der Geist auf und davon
N atürlich
haben wir uns immer wieder gefragt in den vielen Stunden der Einsamkeit: Warum
haben wir uns eigentlich auf den Weg gemacht? Der tote Punkt, den uns Freunde
und Bekannte vorausgesagt hatten, wollte nicht kommen; aber die Fragen und
Zweifel kamen. Wir gingen ihnen einfach aus dem Weg, indem wir weiterzogen.
Jeden Morgen packten wir unsere Siebensachen in den Rucksack, der bald ein Teil
von uns geworden war, so schnell es nur ging. Am Ende gingen wir leichter und
sicherer mit dem Gepäck auf dem Rücken, als ohne über die Straßen.
Wir
wollten hautnah erleben, unterwegs zu sein; das war es, was uns vorantrieb. Am
Anfang widerfuhr uns das ganz buchstäblich: Die Haut hing uns in Fetzen an den
Füßen. Die Riemen des Rucksacks kerbten sich in die Schultern. Die Sonne
schälte uns die Haut von Gesicht und Rücken. Dazu kamen der quälende
Muskelkater und eine bleierne Müdigkeit am Abend. Ja, wir haben es an unserem
ganzen Körper erfahren, mit Hunger, Durst und unter Schmerzen, was es heißt, so
lange auf dem Weg zu sein.
Dann
aber, nachdem die Schmerzen und Beschwerden abgeklungen, die Wunden verheilt
und die Muskulatur trainiert war, kam die Faszination des Weges. Wir wurden
süchtig auf den Weg, süchtig nach jedem neuen Morgen, nach dem Aufbruch, nach
dem Unterwegssein. Es machte uns nichts mehr aus, zu gehen, ohne anzukommen.
Der nächste und der übernächste Tag sahen uns auf der Straße, und doch sehnten
wir uns insgeheim nach dem Ende, nach dem Apostel am Ende der Welt. Jeden Abend
zählten wir die Kilometer hinter uns und berechneten die Tage, die vor uns
lagen. Zugleich überraschte uns die bange Frage, wie es wohl sein werde, wenn
wir an unser Ende kommen.
Das
ganze Leben ist ein Weg. Wir haben an die gedacht, die nicht mehr gehen können.
Wenn wir nicht mehr weiterkommen, dann muß wenigstens unser Geist auf dem Weg
bleiben. Er darf sich durch nichts festhalten lassen. Das war eine unserer
Erfahrungen, die uns nach vielen Tagen zuteil wurden: Unser Geist machte sich
oft auf und davon. Selten war er bei uns, meist eilte er weit voraus oder
hinkte hinterher. Obwohl wir die spanische Wegstrecke zu zweit machten, gingen
wir meistens alleine. Jeder machte seinen Weg. Wenn wir uns dann am Abend
austauschten, dann hatte jeder einen anderen, eben seinen Weg gemacht. Selbst
an den Fotos hinterher zeigte sich das: Jeder sieht seinen Weg anders, jeder
muß seinen Weg gehen.
Wir
gehen auch falsche Wege, lassen uns in die Irre führen. Das passierte uns
einige Male. Dann mußten wir innehalten, die Karte neu lesen, uns verständigen,
zurückgehen, neu anfangen. Ein schmerzlicher Prozeß. Situationen, an denen
unsere Partnerschaft an einen kritischen Punkt kommen konnte. Wer geht schon
gerne einen Kilometer zurück, wenn er noch hunderte vor sich hat? Da half uns
nur die Einsicht, daß das Weitergehen auf der falschen Fährte den Fehler nur
noch größer machte. Die Bitte nach dem richtigen Weg wird im menschlichen Leben
zu einer existentiellen Aufgabe: „Zeige mir, Herr, deine Wege, lehre mich deine
Pfade“, betet der Psalmist. „Führe mich in deiner Treue und lehre mich...“ (Ps
25). Unsere Wege müssen Gottes Wege sein, die rechten Wege, sonst kommen wir
nie an.
Dann
kamen
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