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Lautlos

Lautlos

Titel: Lautlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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nicht gelungen war, das Maß an Trauer zu empfinden, das ihm ihrer Meinung nach zugestanden hätte. Sie fühlte sich schuldig und verwirrt. Das Ausbleiben von Schmerz verunsicherte und beschämte sie. Eine Weile trug sie das Problem mit sich herum, dann erzählte sie O'Connor davon.
    Er schwieg eine Weile. Dann sagte er:
    »Trauer ist ein ungebetener Gast. Sie kommt und geht, wann sie will, nicht, wann du willst. Ich schätze, das ist ihre beste Eigenschaft.«
     
    Hin und wieder dachte sie an Jana, die ihre Familie verloren hatte. Ebenso wenig, wie sich das heulende Elend für Kuhn einstellen wollte, vermochte sie Wut oder gar Hass zu empfinden. Sie fragte sich, wann Janas Schmerz eingesetzt hatte und ob er je enden würde. Aber wahrscheinlich ließ sich der Vergleich nicht ziehen. Kuhn war kein Freund und schon gar kein Verwandter gewesen, eher ein guter Bekannter, den man mochte, ohne es zu merken. Sie stellte sich vor, wie er zur Tür hereinkam und eine blöde Bemerkung über ihre Größe machte, und dann dachte sie an die Art, wie er mit der Terroristin umgegangen war, als hätte eine geheime Verbindung zwischen ihnen bestanden. Erst im Nachhinein fiel ihr auf, dass der Lektor seiner Peinigerin offenbar nicht richtig böse gewesen war. Ob es daran gelegen hatte, dass er ihr vertraute und hoffte, sie würde ihn gehen lassen, oder ob einfach eine bizarre Sympathie zwischen ihnen entstanden war, blieb auf ewig ein Geheimnis. Etwas musste vorgefallen sein, dass sie ihm all den Spott verzieh, mit dem er sie bedacht hatte. Auf Wagner hatte es den Eindruck gemacht, als hätte er alles zu ihr sagen können, und sie hätte ihm nur weiterhin halbherzig den Mund verboten und ansonsten zugehört.
    Opfer und Täter entwickelten oft merkwürdige Abhängigkeiten. Eine Abhängigkeit war es sicher nicht gewesen, aber vielleicht hatte er ihr zu denken gegeben. Durch eine Äußerung, eine Geste.
    Eine Warnung.
    Er hatte sie gewarnt.
    Ich habe dir gesagt, dass sie den Preis für dich ausgehandelt haben. Du wolltest nicht hören.
    War Kuhn am Ende von tieferen Einsichten geprägt gewesen als sie alle zusammen?
    Dort angekommen, begannen sich Wagners Gedanken für gewöhnlich im Kreise zu drehen, und sie dachte an etwas anderes. O'Connor, der nichts zu tun hatte, war begierig, Köln kennen zu lernen. Seine Lesereise war geplatzt, offiziell wegen Erkrankung. Dafür, dass man ihn als Experten in der Stadt festhielt, zeigte die Polizei erstaunlich wenig Interesse an ihm. Wagner schleppte ihn durch Museen, Galerien und Clubs. Sie genoss es, sich nach den Jahren der Kasteiung wieder auf eine Stadt einzulassen, die ihre war und in der es Neues zu entdecken gab und keine abgestandenen Ängste und Irrtümer. Der Gipfel überstrahlte das Kölner Selbstverständnis wie ein Glorienschein, während den Bürgern allmählich das Interesse an dem ganzen Theater abhanden kam. Der Himmel über ihnen hallte wider vom Geknatter der Hubschrauber. Die Allgegenwart der Polizei und die Absperrungen ängstigten und beruhigten sie abwechselnd, konfrontierten sie immer wieder mit dem, was sie durchgemacht hatte – doch ganz allmählich, kaum dass es ihr auffiel, fand sie zu ihrem inneren Gleichgewicht zurück.
    Sie lebte. Sie hatte allen Grund, dankbar zu sein.
    Merkwürdigerweise schlief sie ausgezeichnet. Vielleicht lag es an O'Connor. Der Einfachheit halber war sie in seine Suite gezogen. Auch Wagner hatte man dazu verdonnert, die Stadt fürs Erste nicht zu verlassen, ebenso wie Silberman, der argwöhnte, nicht nur aufgrund seiner Verletzung von seinen Pflichten als Korrespondent entbunden worden zu sein. Sie hatten sich angewöhnt, zusammen zu frühstücken, abwechselnd im Hyatt und im Maritim, wo sie andere Gesprächsgegenstände zu finden suchten als das Attentat und die Stunde in der Halle. Irgendwie schien jeder von ihnen bestrebt, das Thema zu ignorieren wie einen unliebsamen Zeitgenossen, den man einfach so lange nicht beachtet, bis er vom Tisch aufsteht und geht.
    Kuhns Leichnam war zügig nach Hamburg überführt worden. Der Befund hatte einen hypovolämischen Schock ergeben. Kuhn war an einem Milzriss gestorben, innerlich verblutet. Einzig wenn Wagner darüber nachgrübelte, wie Gruschkow den Lektor zusammengetreten haben mochte, entstand wirkliches Grauen vor ihrem geistigen Auge, und sie lenkte sich mit irgendetwas ab, bis die Bilder wichen.
     
    An diesem Morgen war Silberman aufgebracht gewesen. Er hatte wütend in seinen Kaffee geblasen und

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