Lautloses Duell
Frau, ist momentan bei ihnen«, sagte Irv. »Ich bin hergekommen, um Sammie abzuholen.«
»Selbstverständlich.«
Doch bei allem Mitgefühl führte Mrs. Nagler ein strenges Regiment und war nicht geneigt, von den Vorschriften abzuweichen, egal, welche Tragödien den Eltern ihrer Schüler auch widerfuhren. Sie beugte sich über die Computertastatur und tippte etwas ein. Sie konsultierte den Bildschirm und sagte dann: »Sie stehen auf der Liste der Personen, die berechtigt sind, Sammie abzuholen.« Sie drückte auf eine andere Taste, und ein Bild erschien. Das Führerscheinbild von Irving Wingate, das vor Monaten in die Akte eingescannt worden war. Sie sah den Mann an und stellte fest, dass er mit dem Bild perfekt übereinstimmte. Dann sagte sie: »Leider müssen wir noch zwei weitere Einzelheiten überprüfen. Dürfte ich zunächst bitte Ihren Führerschein sehen?«
»Aber sicher.« Er zog die Karte hervor. Sie passte sowohl zu seinem Aussehen als auch zu dem Bild auf dem Computer.
»Nur eine Sache noch. Tut mir Leid, aber Ihr Bruder war sehr auf Sicherheit bedacht.«
»Das weiß ich«, nickte Wingate. »Das Passwort.« Er flüsterte ihr ins Ohr: »Es lautet: SHEP.« Mrs. Nagler nickte bestätigend. Irv schaute aus dem Fenster, sein Blick fiel auf eine Buchsbaumhecke, auf der flüssiges Sonnenlicht schimmerte. »Shep war Donalds erster Airedale, ein wunderbarer Hund. Wir bekamen ihn, als er zwölf wurde. Er züchtet diese Rasse immer noch, wussten Sie das?«
»Ja«, antwortete Mrs. Nagler traurig. »Wir mailen uns manchmal Bilder von unseren Hunden. Ich habe nämlich zwei Weimaraner.« Ihre Stimme verebbte. Sie schob den schmerzlichen Gedanken beiseite, nahm den Hörer vom Telefon, wählte eine Nummer und sprach mit jemandem, wahrscheinlich der Lehrerin des Mädchens, denn sie bat darum, Samantha in die Eingangshalle zu bringen.
»Sagen Sie Sammie noch nichts«, bat Irv. »Ich bringe es ihr möglichst schonend auf der Fahrt bei.«
»Selbstverständlich.«
»Wir machen unterwegs irgendwo Halt, zum Frühstücken. Egg McMuffins isst sie besonders gern.«
Amy mit dem roten Kostüm musste bei der Erwähnung dieses Details heftig schlucken. »Genau das hat sie beim Ausflug in den Yosemite Park auch gegessen …« Sie schloss die Augen und weinte tonlos.
Kurz darauf brachte eine Frau asiatischer Abstammung – allem Anschein nach die Lehrerin des Mädchens – ein dünnes kleines Mädchen ins Büro. Mrs. Nagler lächelte und sagte: »Dein Onkel Irving ist hier.«
»Irv«, verbesserte er sie. »Sie nennt mich Onkel Irv. Hallo, Sammie.«
»Manno, dein Schnurrbart ist ja total schnell wieder nachgewachsen!«
Wingate lachte. »Deine Tante Kathy meinte, so sehe ich würdevoller aus.« Er ging in die Hocke. »Hör mal, deine Mami und dein Papi möchten, dass du einen Tag schulfrei hast. Wir verbringen den ganzen Tag mit ihnen.«
»In Napa? Sind sie zum Weinberg gefahren?«
»Genau.«
»Papa hat gesagt, sie könnten erst nächste Woche wieder hin. Wegen der Maler.«
»Sie haben es sich anders überlegt. Und du sollst mit mir nachkommen.«
»Cool!«
»Hol gleich deine Schultasche, Sammie, ja?«, sagte die Lehrerin.
Das Mädchen rannte los, und Mrs. Nagler informierte die Lehrerin darüber, was geschehen war. »Das ist ja schrecklich«, flüsterte die Frau. Es dauerte nicht lange, bis das Mädchen mit seinem schweren Ranzen über der Schulter wieder da war. Sie und Onkel Irv gingen zur Tür. »Zum Glück ist das Kind in guten Händen«, sagte die Empfangsdame.
Irv Wingate musste sie gehört haben, denn er drehte sich noch einmal um und nickte. Trotzdem stutzte die Empfangsdame, denn das Lächeln auf seinem Gesicht kam ihr merkwürdig unpassend vor, fast wie ein hämisches Grinsen. Dann sagte sie sich jedoch, dass sie sich getäuscht haben müsse, und schrieb den Gesichtsausdruck dem schrecklichen Druck zu, unter dem der arme Mann stehen musste.
»Morgenstund hat Gold im Mund!«, sagte die zackige Stimme.
Gillette schlug die Augen auf und sah Frank Bishop vor sich, frisch rasiert und geduscht und soeben dabei, einen widerspenstigen Hemdzipfel in die Hose zu stopfen.
»Es ist schon halb neun«, sagte Bishop. »Lassen die einen im Gefängnis so lang schlafen?«
»Ich war noch bis vier Uhr wach«, murmelte der Hacker verschlafen. »Ich hab einfach keine bequeme Stellung gefunden. Aber das ist ja kein Wunder.« Er nickte zu dem wuchtigen Metallstuhl, an den ihn Bishop mit den Handschellen gefesselt hatte.
»Die
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