Lavendel und Blütenstaub
Stella Jonathan angebettelt, vernünftig zu sein, doch nachdem sie bemerkt hatte, dass Jonathan keine Lust auf seine Lehrausbildung hatte und sie ihn nicht überzeugen konnte, war sie aufgestanden, in ihr Schlafzimmer gegangen und hatte die Tür zugeknallt. Drei Tage lang hatte sie kein Wort mit Jonathan gesprochen, erst dann hatte sie sich wieder beruhigt und schweren Herzens die Entscheidung ihres Sohnes akzeptiert. Allerdings hatte sie eindringlich an seine Vernunft appelliert und gehofft, dass er bald einen Job finden würde. Vergeblich.
Jonathan stellte die Einkaufstasche auf den Küchentisch. Erst dann fiel ihm auf, dass jemand auf der Terrasse stand.
"Onkel Erwin?" Zögernd ging Jonathan hinaus. Nun hatte er eine Ahnung, warum seine Mutter so aufgebracht war. "Was ist los? Habt ihr gestritten?"
Erwin drehte sich langsam um. Seine Augen blickten traurig. "Schon gut, Junge", sagte er und klopfte auf Jonathans Schulter, als er an ihm vorbei ins Haus ging. "Sag Oma liebe Grüße von mir."
Jonathan blieb allein auf der Terrasse zurück. Er hörte die Haustüre ins Schloss fallen, zuckte mit den Schultern und ging in die Küche. Mit den Kopfhörern am Ohr, die Musik des MP3-Players auf gut hörbare Lautstärke gedreht, räumte er den Einkauf weg. Als er sich umdrehte, um die Eier in den Kühlschrank zu räumen, stand plötzlich Anna vor ihm.
"Ahhh!", rief er und ließ die Eierpackung fallen. Es gab ein dumpfes, schmatzendes Geräusch. Im gleichen Moment riss er sich die Kopfhörer vom Kopf herunter. "Oma! Hast du mich erschreckt!" Sein Herz raste und schlug ihm bis zum Hals.
Anna stand regungslos in der Küche, nur mit einem langen weißen Nachthemd und weißen Wollsocken bekleidet. Sie sah aus wie ein Gespenst, ging es Jonathan durch den Kopf.
"Es hatte an der Tür geklingelt, und da niemand öffnete, bin ich runter gekommen", erklärte Anna ihr plötzliches Erscheinen. In der Hand hielt sie einen Stapel Prospekte. "Die Post", erklärte sie und legte Werbezettel und ein kleines Päckchen auf den Tisch. "Da ist etwas für Frau Huber dabei. Du kennst doch Frau Huber?"
Jonathan schüttelte den Kopf und machte sich daran, die Eierschalen in den Karton zu legen. Mit einem Küchenpapier wischte er den schlimmsten Matsch weg.
"Du weißt doch, Frau Huber, die mit der Enkeltochter, die immer mit dir spielen wollte."
Jonathan dämmerte es. "Sybille."
"Ja, genau, die Sybille. Ach, war sie doch ein liebes Mädel." Anna seufzte.
Jonathan versuchte, sich an Sybille zu erinnern. Sie war ein Jahr jünger als er und klein und rundlich gewesen. Sie hatte rote, gelockte Haare und Sommersprossen auf der Nase gehabt. Und hatte sie nicht auch eine Brille? Jonathan wusste es nicht mehr genau.
"Sie ist dir immer nachgelaufen, weißt du noch?" Anna lächelte. "Aber du wolltest nie mit ihr spielen. Warum eigentlich?"
Sybille-Brille. Jonathan fiel es wieder ein. Sie war so anhänglich wie eine Klette gewesen, und es war ihm unangenehm gewesen, dass ein Mädchen ihm ständig hinterher gelaufen war. Kaum war er bei seiner Oma zu Besuch gewesen, war auch schon Sybille am Nachbarzaun und hatte ihn mit ihrer dicken runden Brille beobachtet. Hin und wieder hatten sie zwar miteinander geredet und einmal waren sie sogar gemeinsam in der Siedlung Rad gefahren, aber mehr hatte Jonathan nicht zugelassen. Sie hatte ihn einfach nur genervt.
Am Boden war der gröbste Schmutz von den Eiern weg und Jonathan warf die Schachtel in den Müll. Er nahm einen Lappen, um noch einmal über den Boden zu wischen. "Was ist eigentlich mit Sybille passiert? Wohnt sie noch hier?" Er versuchte teilnahmslos zu klingen.
Jonathan konnte sich erinnern, dass er sich damals gewundert hatte, dass Sybille immer bei ihrer Großmutter war, bis Anna ihm erklärt hatte, dass sich ihre Mutter nicht um sie kümmerte und sie deshalb bei Frau Huber lebte.
"Sie ist vor drei Jahren in eine Wohnung gezogen, die von irgendeinem Verein oder so betreut wird. Frau Huber hat mir neulich erzählt, dass sie ihre Lehre abgeschlossen hat und nun bei einer Zeitung als Grafikerin in Lehre ist."
Jonathan horchte auf. "Als Grafikerin?"
Anna nickte. "Frau Huber ist ganz stolz auf sie, dass sie so eine gute Ausbildung machen kann und anscheinend macht Sybille ihre Sache richtig gut." Sie sah auf den Poststapel. "Jedenfalls, dieses Päckchen ist für Frau Huber. Wenn du es ihr bitte rüberbringst, wenn sie später nach Hause kommt." Anna warf einen Blick auf die große Uhr, die über dem
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