Lavendel und Blütenstaub
Mutter widmen. Der unbezahlten Urlaub und das dadurch verlorene Geld waren das geringere Problem. Schwieriger war es für sie, mit ihrem Bruder gemeinsam für ihre Mutter zu sorgen. Lieber wäre es ihr gewesen, er wäre irgendwo weit weg und sie könnte die letzten Wochen allein mit Anna verbringen. Dass diese Gedanken egoistisch waren, das wusste Stella, doch sie konnte in dieser Hinsicht einfach nicht aus ihrer Haut. Zu tief saß die Enttäuschung und der Verrat.
Anna regte sich und öffnete langsam die Augen. Stella schreckte aus ihren Gedanken hoch und nahm Annas Hand.
"Wie geht es dir?", fragte sie leise und einfühlsam. "Soll ich dir etwas bringen?"
Anna schüttelte langsam den Kopf.
"Hast du Schmerzen?"
Wieder verneinte Anna, dann ließ sie den Blick durch das Zimmer schweifen. "Wo ist er?" , fragte sie mit krächzender Stimme. "Wo ist Justus?"
"Wer?", fragte Stella überrascht. Sie hatte den Namen noch nie gehört. "Meinst du Erwin?"
Anna räusperte sich. "Ist er gegangen?"
Stella nickte.
"Hat er etwas gesagt?"
Stella schüttelte den Kopf. "Nein", sagte sie leise. "Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Er war fort, als ich mit Jonathan zurückgekommen bin."
Müde schloss Anna wieder die Augen.
Mittlerweile war es Abend geworden. Es dämmerte und am Tisch stand das Abendessen. Eine Scheibe Brot mit Butter und Schinkenwurst. Anna wollte nichts Deftiges am Abend und die Schwestern hielten sich anstandslos an ihren Wunsch.
"Möchtest du essen?" Stella stand auf und stellte das Tablett neben das Bett.
Anna öffnete die Augen und nickte. "Ein bisschen. Ich habe aber nicht viel Hunger."
Während sie das Brot aß, machte sich Stella auf den Weg zum Dienstzimmer von Dr. Becker. Leise klopfte sie an die Tür und trat ein, nachdem ein leises "Herein" zu hören war.
"Dr. Becker? Guten Abend. Kann ich Sie kurz sprechen?"
Dr. Becker saß hinter ihrem Schreibtisch und tippte etwas in ihren Computer. Sie sah auf und blickte Stella freundlich an. "Natürlich", sagte sie mit ruhiger Stimme. "Setzen Sie sich doch. Wie kann ich Ihnen helfen, Stella?" Dr. Becker legte die Ellenbogen auf die Tischkante und faltete die Hände.
"Ich wollte fragen, wann es möglich ist, meine Mutter wieder nach Hause zu holen. Ich weiß, dass es ihr größter Wunsch ist. Sie scheint mir hier sehr verloren und vielleicht auch ein wenig verwirrt. Ich möchte sie zu Hause betreuen, geht das?", fragte sie etwas unsicher.
"Selbstverständlich haben Sie die Möglichkeit ihre Mutter zu Hause zu pflegen. Allerdings raten wir dazu, eine Pflegekraft zu arrangieren, da unserer Erfahrung nach die Angehörigen oftmals überfordert sind. Ihre Mutter wird immer größere Mengen an Morphinen brauchen. Momentan befindet sie sich in Stufe 2, das heißt sie bekommt Niederpotente Opiate. Diese sind zwar leicht zu verabreichen, da es Schmerzpflaster sind, aber die Nebenwirkungen können teilweise heftig ausfallen. Das schreckt die Angehörigen oftmals ab." Dr. Becker machte eine kurze Pause. "Fühlen Sie sich stark genug für diese Belastung? Denn eine belastende Situation ist es allemal. Nicht nur für Angehörige, sondern vor allem auch für die Patienten selbst."
Stella nickte unsicher. "Ich denke schon, dass ich es schaffen kann. Welche Hilfe gibt es sonst noch?"
Dr. Becker öffnete eine Schublade und holte ein Prospekt heraus. "Hier finden Sie alle Informationen über die Mobile Hospizbewegung. Lesen Sie es sich durch und rufen Sie an."
Stella nahm den Folder und warf einen Blick darauf. "Danke", sagte sie.
"Wenn Sie sich bereit fühlen, dann können Sie morgen mit ihrer Mutter nach Hause fahren. Lassen Sie sich allerdings helfen. Sie müssen die Last der Betreuung nicht alleine tragen, in Ordnung? Ich komme morgen früh noch einmal zu Ihnen und erkläre Ihnen und Ihrer Mutter alles Weitere."
Erwin
Es war nach acht Uhr abends. Gabriela saß in legerer Kleidung vor dem Fernseher und sah sich eine Dokumentation an. Es ging um Sterbebegleitung. Fünf Familien ließen sich von einem Kamerateam begleiten, während sie einen schwerkranken Angehörigen zu Hause betreuten; die einen ohne Unterstützung, die anderen mit Hilfe der Mobilen Hospizbewegung.
Gebannt starrte Gabriela auf den Fernsehbildschirm, Erwin stand hinter ihr im Türrahmen und beobachtete sie, das Schnurlostelefon hielt er in der Hand.
"Und, wie findest du die Doku?", fragte er und setzte sich neben seine Frau.
Gabriela löste den Blick vom Bildschirm und sah Erwin an.
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