Lavendel und Blütenstaub
bringen. Der Briefträger hat das bei uns abgegeben." Er drückte Frau Huber das Päckchen in die Hand, murmelte schnell einen Gruß und wandte sich um. Er wollte rasch wieder von diesem alten, laut schreienden Klappergestell weg.
Doch dann hörte er Frau Huber rufen: "Sybiiiiilleeeee! Schau mal, wer daaaaa ist!"
Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Wie angewurzelt blieb er stehen und drehte sich langsam wieder um. Im dunklen Flur hinter Frau Huber konnte er eine Bewegung erkennen, dann löste sich aus dem Schatten eine Gestalt und Jonathan verschlug es die Sprache. Hinter Frau Huber kam das schönste Geschöpf zum Vorschein, das er je gesehen hatte.
Erwin
Er war verletzt. Und gekränkt. Und hoffnungslos.
Seine Mutter war sterbenskrank und die Zeit, die blieb, schrumpfte mit jedem Tag, der verging.
Die Woche mit Anna war so schön gewesen. So entspannend. Und dann dieses plötzliche Ende der schönen Vormittage.
Erwin glaubte nicht, dass Stella am Montag wieder arbeiten gehen würde. Er jedoch hatte mit Gabriela noch eine Woche frei. Diese Woche wollte er eigentlich am Vormittag ebenfalls mit seiner Mutter verbringen, doch die Ereignisse hatten den Plan zunichte gemacht.
Ob es die letzten Tage waren, die er mit Anna so unbeschwert verbringen konnte? Ohne Stella und deren eiskalte Anwesenheit?
"Hallo?" Erwin war zuhause angekommen und legte im Vorraum die Schlüssel auf die Ablage in der Garderobe. "Jemand zu Hause?", fragte er lauschend.
Es kam keine Antwort. Er durchquerte den Flur und trat ins großzügig gestaltete Wohnzimmer. Gabrielas Faible für stilvolle Gegenstände stach sofort ins Auge, ebenso das große dunkle Klavier in der Mitte des Raumes. Gabriela spielte zwar schon seit Jahren nicht mehr, aber sie konnte sich nicht von diesem wertvollen Stück trennen. Vielleicht würde eines Tages eines der Enkelkinder auf dem Klavier die ersten Stücke spielen lernen.
Vom Garten drangen Geräusche zu Erwin. Er ging durch das Wohnzimmer und trat hinaus. Gabriela saß im Schatten der Bäume im Gras und hielt die kleine Marina auf dem Schoß. Sie war mit ihren drei Jahren genauso ein Wildfang wie ihr Bruder, der fröhlich in der Wiese herum tobte.
Gabriela lachte und rollte sich mit Marina im Gras umher. Aurelia saß etwas abseits auf einem Gartenstuhl und beobachtete ihre Kinder. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
Erwin trat neben sie. "Hallo Schätzchen", sagte er und küsste Aurelia auf die Wange.
"Hallo Papa! Ich hab dich gar nicht gehört!"
"Kein Wunder, so laut wie die herumtollen!", lachte Erwin und betrachtete seine Frau. Sie war kaum wiederzuerkennen. War sie nach außen hin eine unnahbare Geschäftsfrau, so war sie in Wirklichkeit eine liebevolle Mutter und eine sehr liebenswerte Oma. Die Enkelkinder liebten sie heiß und innig und freuten sich immer, wenn Oma neben ihrem zeitaufwändigen Beruf Zeit für sie fand.
"Wie geht es Oma?", fragte Aurelia leise. "Hast du sie nach Hause gebracht?"
Erwin setzte sich neben sie auf den Gartenstuhl. "Ja", sagte er knapp und ein wenig gedankenverloren.
"Wie geht es ihr?"
"Ihr geht es recht gut. Die Schmerzmittel scheinen gut zu wirken."
"Was bekommt sie?"
"Mophiumpflaster."
Aurelia blickte erstaunt. "Ist es schon so ernst?"
Erwin nickte, den Blick immer noch auf Gabriela und die Kinder gerichtet.
"Und man kann keine Chemo machen? Nichts tun, um das aufzuhalten?"
"Es gäbe sicher etwas. Zum Beispiel kann man die Leber verkleinern oder durch ein Medikament das Tumorwachstum bremsen, aber das will sie nicht." Er löste den Blick von dem fröhlichen Bild in der Wiese und blickte geradewegs Aurelia an. "Sie will keine lebensverlängernden Maßnahmen. Sie möchte nur eine schmerzmedikative Behandlung, weil sie das Leid nicht länger hinauszögern will."
Aurelia schwieg betroffen.
Erwin hob hilflos die Arme. "Was soll man da machen, wenn sie das so bestimmt und ihre Tochter das auch noch unterstützt?"
Die Frage blieb unbeantwortet. Die kleine Marina hatte ihren Opa entdeckt und war herbei gestürmt.
"Opa, Opa!", rief sie und warf sich lachend gegen seine Beine. Erwin stand auf, schnappte sich das braunhaarige Mädchen und warf es lachend in die Luft.
"Wie groß ist meine kleine Maus?", rief er.
"So groß!", antwortete Marina jauchzend und warf ihre Arme in die Höhe.
Auch Sebastian kam angelaufen. "Opa! Spielst du später mit mir Fußball?"
Erwin stellte Marina, die immer noch kicherte, auf den Boden und wandte sich dem Jungen zu. "Ja
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