LaVyrle Spencer
aber
sie versuchte nicht mehr, vor ihm zu fliehen. Nur diese kläglichen Schläge
waren Ausdruck ihres unsäglichen Leids.
»Catherine«, flüsterte er, »die
Stärke, die du zeigst, ist unmenschlich. Gestehe auch dir Schwächen zu.«
»0 Gott, Clay, es war ein Junge. Ich
habe ihn im Brutkasten gesehen. Er war so hübsch und zart.«
»Ich weiß,
ich weiß.«
»Ihre Eltern sind nicht gekommen.
Clay, sie sind nicht gekommen!« Ihre Fäuste trommelten weiter auf seinen Rükken.
Laß sie
weinen, dachte er. Wenn sie doch endlich weinen würde. »Aber deine Mom wird
kommen und meine.«
»Was willst du mir eigentlich antun?« Sie wich plötzlich vor
ihm zurück und preßte jetzt beide Fäuste gegen seine Brust. »Catherine, vertrau
mir.«
»Nein, nein! Laß mich gehen! Das ist
schlimm genug. Ich kann nicht noch mehr Verwirrung vertragen.«
Dann lief sie die Treppe hinauf,
nahm die ganzen Jahre ihres aufgestauten Leids mit sich. Aber er wußte jetzt,
daß Sanftmut und Zärtlichkeit ihre Mauer durchbrechen würden. Viel Zeit und
Geduld würden erforderlich sein, aber schließlich würde sie nachgeben.
23
Am Nachmittag des Heiligabends begann es zu
schneien. Scheinbar schwerelos schwebten die Schneeflocken herab und zauberten
eine weiße Decke über die Stadt. Die Lichter brachen sich glitzernd in den
Schneekristallen und erhellten den Abendhimmel mit sanftem Schimmer.
Catherine trug einen neuen,
selbstgenähten Trägerrock aus weichem, rostfarbenem Wollstoff, der von einer
Schleife unter ihren
Brüsten gerafft wurde. Sie hatte beschlossen, sich diesmal nicht von Elizabeth
Forrester einschüchtern zu lassen. Doch als beide vor der Haustür standen,
schwand Catherines Mut bei dem Gedanken, der alten Dame mit ihrem provokativ
gewölbten Leib gegenübertreten zu müssen. »Ob sie wohl schon hier ist?« fragte
sie Clay ängstlich. »Bestimmt. Tu, was ich dir sagte: Begegne ihr offen und
direkt. Das bewundert sie.«
Catherine zwang sich zu einem
Lächeln, das aber schwand, als sie eintraten und Elizabeth Forrester die breite
Treppe herunterkam. Dabei stützte sie sich auf
ihren Spazierstock, der überraschenderweise mit einem Weihnachtssträußchen und
einer roten Schleife geschmückt war.
»Nun, es
wird aber auch Zeit, Kinder!« schalt sie herrisch. »Fröhliche Weihnachten,
Großmutter«, begrüßte Clay sie und nahm ihren Arm.
»Ja, man
gab mir zu verstehen, daß es ein fröhliches Fest wird. Bitte, Clay, noch kann
ich allein die Treppe hinuntergehen. Wenn du jemanden verhätscheln willst, so
bedarf doch deine schwangere Frau deiner Fürsorge. Ist es nicht so, meine
Liebe?« Sie richtete ihre Habichtsaugen auf Catherine. »Wohl kaum. Ich bin
gesund wie ein Pferd«, entgegnete Catherine, reichte Clay ihren Mantel und
präsentierte ihren dicken Bauch.
Um Elizabeth Forresters Lippen
spielte ein leichtes Lächeln. Ihre Augen glitzerten, wobei sie es ostentativ
vermied, Catherines gewölbten Bauch anzusehen. Dann hob sie spöttisch eine
Braue und sagte zu Clay: »Weißt du, ich mag die Art dieser jungen Frau. Sie ist
meiner nicht ganz unähnlich, möchte ich hinzufügen.« Mit der Elfenbeinspitze
ihres Spazierstockes stupste sie Catherine leicht in den Bauch und wiederholte
ihre matriarchalische Anordnung: »Wie ich bereits sagte, erwarte ich, daß er
schön und intelligent wird. Fröhliche Weihnachten, meine Liebe.« Sie legte ihre
Wange flüchtig gegen Catherines und hauchte einen Kuß in die Luft. Dann
stolzierte sie hocherhobenen Hauptes in den Salon. Catherine starrte Clay mit
offenem Mund an.
»Ist das alles?« flüsterte sie
erleichtert.
»Alles?« wiederholte er lächelnd.
»Schön und intelligent? Das ist ein ziemlich hoher Anspruch.«
Catherine entgegnete lächelnd: »Aber
wenn sie nur niedlich und von durchschnittlicher Intelligenz ist?«
Clay warf ihr einen schockierten
Blick zu. »Das würdest du nicht wagen!«
»Nein, wahrscheinlich nicht.«
Lächelnd sahen sie einander an, die
Begegnung mit Elizabeth Forrester war bereits vergessen. Während Catherine
Clays Gesicht betrachtete, das charmante Lächeln um seinen anziehenden Mund
und die leicht gehobene linke Braue, fühlte sie ihre Selbstbeherrschung
schwinden. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie einander schon eine
Weile in die Augen sahen, und sie dachte, das muß an diesem Haus liegen. Was geschieht mit
mir, wenn ich mit ihm zusammen hier bin? Catherine brach den Bann und ließ ihre
Blicke durch die prächtig geschmückte Halle schweifen.
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