Lawinenexpreß
inne.
»Stört es Sie, wenn ich meine Zigarre rauche, mein Fräulein?«
Anna sah ihn kurz an, zuckte die Achseln und wandte, ohne zu antworten, den Blick ab. Das Mahlen der Zahnräder begann, und sie hatte das Gefühl, daß der Zug bei dieser steilen Abfahrt enormen Belastungen ausgesetzt war, daß die Zahnräder vielleicht aushaken und daß der Zug durch den Tunnel in die Tiefe rasen könnte. Es war eine irrationale Furcht; sie wußte, daß die schweizerischen Zahnradbahnen Wunderwerke der Ingenieurkunst sind, daß sie in ihrer gesamten Geschichte immer unfehlbar ihren Dienst versehen haben – ohne jeden Unfall.
»Einige Menschen haben etwas gegen Zigarren«, fuhr Volcker fort und paffte weiter, bis die Spitze der Zigarre rot glühte.
Anna fühlte sich angespannt, und ihre Nerven waren im Augenblick nicht die besten. Mit ihrem kurzen Blick hatte sie an Erich Volcker eine Menge bemerkt; ihr waren seine muskulöse Fettleibigkeit aufgefallen, sein obszön kahler Schädel und seine kleinen, wachsamen Augen. Manche kahlköpfige Männer üben auf Frauen eine magnetische Anziehungskraft aus; Erich Volcker gehörte nicht zu dieser Kategorie. Und sie war mißtrauisch. Warum hatte er gerade dieses Abteil gewählt – der ganze übrige Zug war doch leer?
Möglicherweise hatte sie von diesem scheußlichen Mann nichts Aufregenderes als eine amouröse Attacke zu erwarten. Diese Erfahrung war Anna Markos nur zu vertraut. Als Volcker versucht hatte, sie in der Andermatter Seitenstraße zu überfahren, hatte sie im gleißenden Scheinwerferlicht keine Chance gehabt, das Gesicht des Fahrers zu erkennen, bevor sie die Windschutzscheibe zerschmetterte. Sie sah wiederholt auf die Uhr. Noch dreiundzwanzig Minuten allein mit diesem Widerling. Außerdem hatte er kein Gepäck bei sich. War er ein Bahnbeamter auf der Heimfahrt? Wenn ja, warum trug er keine Uniform? Mit einem entmutigend arroganten Gesichtsausdruck durchdachte Anna weitere Möglichkeiten, während der Zug in einen neuen Tunnel hineinfuhr. Durch eine höhlenartige Öffnung im Fels erhaschte sie einen Blick auf die mondbeschienene und zugefrorene Reuß.
»Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Urlaub gehabt?« Volcker sprach mit seiner kehligen Stimme unbeirrt weiter und setzte sich auf den Sitz ihr gegenüber. »In Andermatt hat jeder einen wunderbaren Urlaub.«
Zum erstenmal sah Anna Markos ihm voll ins Gesicht. Ihre vollen Lippen schürzten sich zu einem verächtlichen Ausdruck, als sie ihren Pelzmantel aufmachte, als spürte sie jetzt die Wärme im Abteil. Sie bemerkte seine auffallend großen Hände. Auf der Rückseite seiner Finger sprossen schwarze Haare. Davon könnte er auf seiner Glatze ein paar gebrauchen, dachte sie. Sie hatte die Hände lässig im Schoß gefaltet, während er sie weiter anstarrte und an seiner Zigarre sog, bis die Spitze wiederum rotglühend war. Dann nahm er die Zigarre aus dem Mund, beugte sich blitzschnell vor und stieß ihr das glühende Ende gegen die Hand, um ihr einen Schock zu versetzen – er wollte sie für ein paar Sekunden aus dem Gleichgewicht bringen.
Wenigstens hatte er sich das vorgenommen. Annas Hände bewegten sich so schnell, daß er kaum folgen konnte. Sie schlug ihm die Zigarre aus der Hand, es regnete Funken, von denen ihm einige gegen die Wange flogen. »Sie Miststück…« Seine riesigen Hände packten ihre Kehle und umklammerten ihren Hals in einem eisernen Würgegriff. Seine langen Finger hielten sie wie ein Würgehalsband, und seine Daumen drückten ihr die Luftröhre ein. Sie zerkratzte die rechte Seite seines Gesichts. Das Blut schoß heraus, als sie ihm eine tiefe Kratzwunde beibrachte, aber Volcker ignorierte den Schmerz. Er wußte, daß es nur dreißig Sekunden dauern würde. Sie drehte sich mühsam auf dem Sitz herum und ließ sich zurückfallen, aber er hielt eisern fest und stürzte sich mit seinem massiven Rumpf auf sie. Sie sah nur noch wie durch dichten Nebel und spürte, wie ihr das Bewußtsein schwand.
Mit einer plötzlichen heftigen Bewegung schwang sie ihren kraftvollen Körper seitlich vom Sitz herunter, wobei sie Volcker mitzog. Er landete unter ihr auf dem Fußboden. Aber noch immer hielt er sie in seinem Würgegriff fest. Sie spürte das Vibrieren der Zahnräder durch den Fußboden, als der Zug seinen mühsamen Weg durch den Schollenen-Tunnel fortsetzte. Mit letzter Willenskraft bewahrte sie sich davor, ohnmächtig zu werden.
Volckers fette, kahlköpfige Silhouette verschwand immer mehr im
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