Lawinenexpreß
Nebel.
Annas rechte Hand steckte zwischen ihren beiden Leibern. Sie packte den Griff ihres Messers und zog es mit aller Kraft aus der Scheide und befreite es dann aus Volckers tödlicher Umklammerung. Sie knirschte mit den Zähnen, umfaßte das Messer mit ihrer ganzen Kraft und stieß es ihm nach oben in die Seite. Er stieß ein unterdrücktes, tierhaftes Keuchen aus, und dann ließen seine Hände ihre Kehle los. Sie hörte ein eigenartiges Klopfen. Anna rang nach Luft und zog sich wieder auf den Sitz. Das Geräusch, das sie gehört hatte, war das Klopfen von Volckers winzigen Füßen, die sich zuckend bewegten. Das Geräusch erstarb. Volcker lag sehr still da. Seine Augen waren geöffnet, starrten ins Leere.
Anna sah auf die Uhr. 20 Uhr 40. Nur noch sechs Minuten bis Göschenen. Sie beugte sich über den Toten und zog und zerrte, um das Messer herauszubekommen. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um die Waffe freizubekommen. Mit einem großen Taschentuch, das sie in einer seiner Taschen gefunden hatte, wischte sie die Fingerabdrücke vom Griff ab, nachdem sie sich zuvor Handschuhe übergezogen hatte. Dann wischte sie auch die Schneide ab, tupfte ein paar Blutflecken auf dem Fußboden weg und steckte Volcker das Taschentuch wieder in die Tasche.
In seiner Brieftasche fand sie eine Karte mit seinem Namen. Unter seinem Namen war auf deutsch gedruckt: ›Flugzeugmechaniker.‹ Eine zweite Visitenkarte trug den Namen Robert Freys. Sie steckte die Brieftasche zurück und starrte aus dem Fenster. Der Zug, der sich noch immer im Schneckentempo bergab bewegte, hatte den Tunnel verlassen und fuhr jetzt unter einem Lawinendach hindurch. Unter dem Dach lag der Gleiskörper offen da – seitlich des Schienenstrangs fiel eine Bergwand steil ab. Bis weit in die Tiefe sah sie nichts als glitzerndes Eis. Sie öffnete die Tür und ließ sie im Takt mit dem sanften Vibrieren der Zahnräder gegen den Türrahmen schlagen.
Sie stellte sich hinter den toten Mann, bückte sich und hievte ihn an den Schultern hoch. Er schien eine halbe Tonne zu wiegen. Als sie ihn mit den Händen in seinen Achselhöhlen hochgewuchtet hatte, taumelte sie mit dem leblosen Körper vorwärts, bis er die geöffnete Tür berührte. Ihr Brustkorb wogte vor Anstrengung; sie holte nochmals tief Luft und schob Volcker mit aller Kraft nach vorn. Die Tür flog auf, Volcker fiel durch die Öffnung, fiel über den Gleiskörper hinaus und stürzte in die Tiefe, bis er nicht mehr zu sehen war. Die Nachtluft strömte herein, das Abteil wurde plötzlich eiskalt. Anna lehnte sich hinaus, blickte nach links und sah, daß sich ein weiterer Tunnel näherte. Sie zog die Tür heran und machte sie zu.
Sie suchte den Fußboden nach Blutspuren ab und besah sich dann im Spiegel. Ihr Hals war zerkratzt und geschwollen. Sie machte ihre Reisetasche auf, nahm einen Schal heraus und band ihn sich um, machte den Pelzmantel wieder zu und zog sich die Kapuze über den Kopf. Sie nahm einen Lippenstift aus ihrer Handtasche und schminkte sich die Lippen. Danach fühlte sie sich schon viel besser. Dann fiel ihr die Zigarre ein. Sie fand sie unter einem Sitz, wo sie noch immer glomm, und warf sie aus dem Fenster.
Als der kleine Zug aus dem Tunnel auftauchte und an seinem eigenen Bahnhof hielt, stand sie an der Tür. In Göschenen, nördlich des Hauptmassivs der Alpen, tobte ein Schneesturm. Sie sah auf ihre Uhr, 20 Uhr 46. Wieder einmal war ein Schweizer Zug pünktlich angekommen. Sie hob ihre Reisetasche auf, öffnete die Tür, ging in den Schneesturm hinaus und eilte zum Hauptgebäude hinüber. Sie drehte sich nicht einmal um, um der Öffnung des Schollenen-Tunnels noch einen letzten Blick zuzuwerfen.
21. Göschenen, Zürich
Um die Zeit, als der Atlantik-Expreß Airolo erreichte, hatte Wargrave mit Hilfe des Schweizer Funkers Max Bruder die Alouette auf einem Flugplatz in der Nähe aufgesetzt. Der Flugplatz schien von einer halben Schweizer Armee umstellt zu sein. Springer legte die kurze Entfernung zum Flugplatz im Wagen zurück. Als Robert Frey aus dem Hubschrauber gebracht wurde, sah er sich feindseligen und bewaffneten Männern gegenüber – sie machten so feindselige Gesichter, daß Springer den bislang so hochgeachteten Bergsteiger selbst zu einer bereitstehenden grünen Minna begleitete. Bei den nördlich des Gotthards herrschenden scheußlichen Wetterverhältnissen würde der Hubschrauber von jetzt an ohnehin nutzlos sein; folglich ließ man ihn auf dem Flugplatz stehen.
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