Lawinenexpreß
Marenkow.
»Machen Sie sie klein«, schlug Haller vor.
»Boris Wolkow. Simowitsch, der Bulgare. Leitermann, der Deutsche aus Leipzig. Sie sind die besten KGB-Scharfschützen.«
»Da stimme ich Ihnen zu«, sagte Haller. »Die Frage ist nur – wer ist es, der mit uns in diesem Zug sitzt?«
Marenkow schüttelte den Kopf. »Leitermann befindet sich in den USA und wartet auf einen Einsatz. Zehn Minuten nach dem Abflug der Boeing von Schiphol werden Sie von mir Details bekommen, und dann können Sie ihn sofort verhaften lassen.« Er winkte ab, als Haller zu sprechen begann. »Nein, darüber sind wir uns ja einig – die vollständigen Informationen erst dann, wenn ich über dem Atlantik bin. Wolkow befindet sich wegen eines Leberleidens in einer Moskauer Klinik. Die GRU-Leute kann ich nicht nennen, weil ich sie nicht kenne.«
»Bleibt also Simowitsch übrig«, betonte Haller.
Wargrave mischte sich ein. »Simowitsch ist vor achtzehn Monaten in Brüssel vom Secret Service getötet worden.«
»Das läßt keinen der von Ihnen genannten Männer übrig, Marenkow«, bemerkte Haller irritiert.
»Das stimmt nicht ganz«, entgegnete der Russe. »Es gibt noch einen vierten Mann.« Er wandte sich an Wargrave. »Sie haben einmal in Griechenland gearbeitet?«
»Wenn Sie es sagen.«
»Dann haben Sie vielleicht einmal den Namen Nicos Leonides gehört?«
»Nein.«
»Er ist Scharpinskys bevorzugter Henker – obwohl er, soviel ich weiß, bisher nur in seiner Heimat Griechenland gearbeitet hat. Ich habe keine Beschreibung von ihm, aber es wäre eine Möglichkeit.«
»Und keinerlei Beschreibung – nicht einmal ein Hinweis auf seine Gewohnheiten, Vorlieben, auf Dinge, die er nicht mag?« wollte Elsa wissen.
»Nichts.« Der Russe sah sich im Abteil um. Sein Gesichtsausdruck war düster. »Eines weiß ich allerdings genau – für Oberst Scharpinsky steht persönlich so viel auf dem Spiel, daß er sich selbst in den Zug setzen wird, wenn er erfährt, daß ich noch immer am Leben bin. Ich bin davon überzeugt, daß er dann in Zürich zusteigen wird.« Der Russe ballte die Faust. »Darauf können Sie sich verlassen.«
»Dann müssen Sie ihn uns schnell beschreiben«, sagte Elsa mit Nachdruck.
»Das wird Ihnen nicht unbedingt weiterhelfen – er ist ein Meister in der Kunst der Verkleidung, ein geborener Schauspieler. Aber er wird diesen Zug besteigen, bevor er die Schweiz verlassen hat – darauf wette ich mein Leben.« Er lächelte ohne einen Anflug von Humor. »Wenn ich es mir recht überlege, tue ich das ohnehin – ich setze mein Leben aufs Spiel…«
Wargrave verließ das Abteil und ging durch den Zug weiter nach vorn. Der Expreß näherte sich inzwischen Göschenen. Anders als frühere Nachtzüge nach Holland würde der neue Atlantik-Expreß in nördlicher Richtung direkt nach Zürich weiterfahren und die Stadt nicht wie früher umgehen. Die nächsten Stationen würden Luzern und Basel sein. Und trotz aller Bemühungen der Schweizer Eisenbahner, die Reisenden zu beruhigen, machte sich nach dem schrecklichen Lawinenerlebnis noch immer nervöse Spannung im Zug bemerkbar.
Als er an den Abteilen vorübereilte, bemerkte Wargrave, daß manche Vorhänge zugezogen waren; dort versuchten die Leute zu schlafen, während andere hellwach waren und ängstlich hinausstarrten, obwohl sie außer den Tunnelwänden nichts sehen konnten. Als der Expreß sich dem Tunnelausgang und dem Bahnhof von Göschenen näherte, wurde er langsamer, dann glitt er am Bahnsteig entlang und hielt. Draußen tobte ein Schneesturm, und der Bahnsteig war von einem dicken weißen Teppich bedeckt. Eine einzige Reisende stieg zu.
Anna Markos hatte sich einen Platz in einem Erster-Klasse-Abteil reservieren lassen und war erleichtert, das Abteil leer zu finden. Im nächsten Abteil saß Jorge Santos und beobachtete sie, als sie vorbeiging. Er saß ebenfalls allein, hatte die Beine ausgestreckt und die Pfeife zwischen den Zähnen. Als der Expreß sich wieder in Bewegung setzte, streckte Santos sich, stand auf und trat auf den Gang. Einen Augenblick blieb er vor dem angrenzenden Abteil stehen, in dem Anna Markos den Mantel auszog und im Profil ihre großartige Figur zeigte. Als sie zur Seite blickte, sah sie, daß Santos sie beobachtete. Der Spanier zwinkerte ihr zu. Sie kehrte ihm den Rücken, und nachdem sie sich gesetzt und die Beine übereinandergeschlagen hatte und wieder auf den Gang blickte, war er verschwunden. Zwei Minuten später betrat Harry
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