Lawinenexpreß
Führerstands hinüber.
Der große Wald war verschwunden, ausgelöscht von der Sturm flut der heranrasenden Lawine, die jetzt seitlich des Zuges bis auf einen knappen Kilometer herangekommen war. Die riesige Welle aus Gestein und Schnee war so hoch, daß Springer kaum mehr daran zweifelte, daß sie den Expreß überrollen würde. Normaler weise wäre sie auf dem engen Talgrund zum Stillstand gekommen, aber diesmal kam zuviel den Abhang herunter…
Springer rasten viele Gedanken durch den Kopf, als er die Katastrophe näher kommen sah; er dachte an seine Frau Clara und an seinen achtzehnjährigen Sohn Charles, der an der Lausanner Universität studierte – beide waren jetzt sicher zu Hause in der Züricher Wohnung. Wahrscheinlich würde er sie beide nie wiedersehen. Und dann erkannte er mit einemmal das wirkliche Ausmaß dessen, was da herangestürmt kam – es war eine dreifache Lawine, die dieses Ungeheuer Frey da ausgelöst hatte, nur um einen einzelnen Mann zu töten – an die anderen dreihundertfünfzig Seelen, die sich in diesem Zug befanden, hatte er keinen Gedanken verschwendet…
Zuerst hatte Springer das identifiziert, was er als eine größere Pulverschneelawine kannte, die im Sturz kaum mehr als ein zischendes Geräusch hören läßt, eine ungeheure Welle aus Schnee, der im Mondschein leuchtete – ein Schauspiel von einer gewissen majestätischen Größe. Aber durch das Brummen der mit voller Kraft arbeitenden Motoren vernahm er jetzt das zwischen den Bergwänden widerhallende Donnern, das ihm sagte, daß auch gewaltige Eismassen zu Tal stürzten. Und als wäre dies alles noch nicht schrecklich genug, sah er riesige Felsblöcke, die inmitten der weißen Pulverschneewolke herabflogen. Es war auch eine Gesteinslawine.
…11. September 1881. Das Dörfchen Elm im Schatten des Plattenbergkopfs. Millionen Tonnen Gestein und Fels waren heruntergefallen, ein mächtiger Wind war dem Ansturm vorausgegangen und hatte Menschen durch die Luft gewirbelt, ganze Häuser wegfliegen und andere unter dem Druck der Luftwelle bersten lassen. Auch das war eine Gesteinslawine gewesen. Und im Expreß befinden sich dreihundertfünfzig Reisende, dachte Springer wieder. O mein Gott…
Im gesamten Zug hatte sich jetzt nackte Panik der Reisenden bemächtigt, die sich trotz der Bemühungen der Schweizer Eisenbahner und der Abwehrleute auf den Gängen drängten. Nichts hielt sie mehr in ihren Abteilen. Das Donnern der fallenden Eismassen machte die Panik vollständig. Einige öffneten in ihrer Todesangst die Türen und sprangen auf den Bahnkörper, rannten auf das Ende des Zuges zu, als läge dort die Rettung – statt dessen liefen sie genau auf die Lawine zu.
Am Ende des Zuges bot sich ein noch schrecklicheres Bild. In ihrem abgedunkelten Abteil standen Haller und Marenkow am Fenster und blickten hinaus. Und Julian Haller, der rasch auf seine Uhr sah, dachte an seine Frau Linda. In New York war es jetzt 14 Uhr 35 Ortszeit. Sie arbeitete jetzt vermutlich in ihrer Modefirma in der Madison Avenue. Ob er sie jemals wiedersah? Er bezweifelte es. Zumindest würde sie in den Genuß seiner großzügigen Pensionsregelung kommen. Plötzlich lief ein langhaariges Mädchen unter dem Fenster vorüber – sie rannte auf die Lawine zu. Ihr Gesicht war vor Angst verzerrt. Marenkow lehnte sich hinaus, packte sie beim Haarschopf. Als sie aufschrie, benutzte er die zweite Hand, um sie unter der Achselhöhle zu packen, und zog sie ins Abteil. Er schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, um ihre Hysterie zu durchbrechen. Haller öffnete die Abteiltür und sah sich Matt Leroy gegenüber, der draußen Wache hielt.
»Was ist los?« wollte Leroy wissen.
»Nichts Besonderes«, erwiderte Haller mit bitterer Ironie. »Bringen Sie dieses Mädchen wieder weiter nach vorn zu ihrem Abteil – übergeben Sie sie einem der Abwehrbeamten, und sagen Sie ihm, er soll aufpassen, daß sie drinbleibt…«
Auf der Westseite des Bahndamms hatten Bahnbeamte und Männer aus Springers Einheit die meisten der flüchtenden Reisenden inzwischen eingefangen und schoben sie jetzt in den langsam fahrenden Zug zurück. Andere Reisende halfen, sie in die Waggons zu ziehen. Haller stellte sich wieder ans Fenster neben Marenkow und sah etwas Entsetzliches. Aus einigen Häusern in der Ferne, die in der Bahn der Lawine lagen, rannten Menschen. Beide Männer sahen, wie ein kleines Kind über ein Feld rannte, verfolgt von einer Frau, vermutlich der Mutter.
Als das Kind
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