Lawinenexpreß
das Kinn. Die vor kurzem durchgeführte Operation hatte ein ständiges Kitzeln zurückgelassen, das ihn in Augenblicken der Anspannung irritierte. Seine Stimme war fest und entschieden, als er Marschall Pratschko direkt ansah. »Ist es jetzt nicht an der Zeit, eine Evakuierung all unserer wichtigen Agenten aus der Bundesrepublik, Frankreich und Belgien anzuordnen – bevor es zu spät ist? Sie können später immer noch zurückkehren.«
»Meine Informationen gehen dahin«, erwiderte Pratschko, der Zeit gewinnen wollte, »daß die deutschen Grenzkontrollstellen im Osten in Alarmbereitschaft versetzt und personell verstärkt worden sind. Und bei diesem Wetter wird es unseren Leuten noch schwerer fallen, über die Grenze in die DDR zu entkommen…«
»Dann müssen sie versuchen, den Frachter Maxim Gorkij zu erreichen, der im Augenblick, von der Ostsee kommend, nach Süden fährt und bald die holländische Küste erreichen wird…«
»Wenn Sie das empfehlen«, stimmte Pratschko listig zu.
»Nein!« Sedows Stimme klang scharf. »Sie sind der Verteidigungsminister, und wir erwarten Ihre Vorschläge…«
Pratschko saß in der Falle, und das wußte er auch. In der Schweiz hatte es das erste Debakel gegeben, das man ihm in die Schuhe schieben konnte, und jetzt stand er vor zwei unmöglichen Alternativen. Wenn er nein sagte und Marenkow heil in Amerika ankam, wäre der sowjetische Untergrundapparat in Westeuropa zertrümmert. Wenn er ja sagte, würden die Agenten zwar entkommen, aber es würde viel Zeit erfordern, sie wieder nach Westeuropa einzuschleusen. Er entschied sich für die im Augenblick weniger gefährlich erscheinende Alternative.
»Ich empfehle die Evakuierung…«
Sarubin, das stellte er jetzt fest, hatte in weniger als einer Minute offiziell protokolliert, daß dies die Entscheidung des Verteidigungsministers sei. Pratschko gefiel das gar nicht, aber er konnte nichts dagegen tun. Er machte eine letzte Bemerkung.
»In diesem Moment entwickelt Oberst Scharpinsky vermutlich Pläne, die zur Vernichtung des Verräters Sergej Marenkow führen werden…«
22. Zürich, Hauptbahnhof
Es war 21 Uhr 10 – weniger als zwei Stunden vor der planmäßigen Abfahrt des Atlantik-Expreß aus Zürich –, als Scharpinsky im Wohnzimmer der Villa in der Lindengasse saß und drei Fotos betrachtete, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Er hatte vier Männern, die die Villa inzwischen verlassen hatten, genaue Anweisungen gegeben. Jetzt war er mit Ilse Murset allein und spürte, wie seine innere Anspannung ständig stärker wurde. Das Warten war immer der schlimmste Teil eines neuen Unternehmens, aber immerhin hatte er alles vorbereitet. Und Rudi Bühler mußte inzwischen in Basel sein, um dort in den Atlantik-Expreß zuzusteigen.
Als Bühler das Hotel Schweizerhof wenige Sekunden vor Scharpinsky verlassen hatte, war er zum Hauptbahnhof hinübergegangen und in einen Zug nach Basel gestiegen. Der Mann am Hotelempfang hatte den Männern Trabers inzwischen sicher seine Beschreibung gegeben – falls diese ihre vorübergehende Operationsbasis ausgehoben hatten –, und es war nur zu ratsam, daß er sofort die Stadt verließ.
Als Oberst Scharpinsky die drei Fotografien betrachtete, berührte Ilses schlanke weiße Hand seinen Nacken.
»Was können dir diese Fotos denn sagen?«
»Studiere den Feind«, erwiderte Scharpinsky. »Wenn ich diese Bilder betrachte, glaube ich, daß es möglich ist, vorherzusehen, wie diese Männer unter Druck reagieren werden…«
Das erste Foto, das am unschärfsten war, zeigte Oberst Springer, der seine Hutkrempe heruntergezogen hatte. Das Bild war von einem Fenster in der Bahnhofstraße aus mit einem Teleobjektiv aufgenommen worden. Das zweite – sehr viel klarere – Bild zeigte General Max Scholten, dessen rosiges Gesicht leicht zu identifizieren war. Der holländische Abwehrchef war vor dem Hotel Astoria gegenüber dem Haager Bahnhof aufgenommen worden. Auf dem dritten, vor mehreren Jahren in Athen geschossenen Bild war Harry Wargrave zu sehen. Scharpinsky tippte mit dem Finger auf dieses dritte Bild. »Dieser Mann ist der gefährlichste der drei…«
»Du bist angespannt…« Ilses Finger fuhr fort, den Nacken des Russen zu streicheln. »Wollen wir nach oben gehen?« Ihre hochgewachsene, schlanke Figur straffte sich, als sie den Reißverschluß auf der Vorderseite ihres Kleides aufmachte. Der Russe zögerte und sah auf seine Uhr. »Wir haben keine Zeit, nach oben zu
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