Lawinenexpreß
diesem Ende des Sees war das Eis nur dünn. Die Wassertiefe betrug rund zwanzig Meter. Einer hielt die Füße der Leiche, der andere die Schultern, dann ließen sie sie schaukeln, um Schwung zu bekommen, und warfen sie dann in den See. Der beschwerte Leichnam durchbrach das klirrende Eis und versank.
Jaeger setzte sich wieder ans Steuer des Wagens und fuhr zur Quaibrücke zurück, überquerte sie und fuhr dann weiter zur Lindengasse. Sie hatten jetzt bei sich, was sie hatten holen sollen, eine Gepäckträgeruniform, und außerdem würde die Frau des Toten ihren Mann erst am nächsten Morgen als vermißt melden – wenn er überhaupt verheiratet gewesen ist, dachte Jaeger gefühllos –, also erst lange nach Abfahrt des Atlantik-Expreß. Immerhin wäre sein Dienst, wie er Nacken erzählt hatte, erst morgens um acht zu Ende gewesen.
Das zweite Zwei-Mann-Team, das von der Lindengasse aus losgeschickt worden war, hatte eine leichtere Aufgabe als Jaeger und Nacken. Sie setzten sich in einen anderen Wagen und fuhren zur Westseite der Stadt, bis sie in einem Industrievorort eine große Garage erreichten. Einer der Männer stieg aus, öffnete die Doppeltür und schloß sie wieder, nachdem der Wagen in die Garage gefahren worden war. Er hielt neben einem riesigen Lastwagen, der auf der Seite die Aufschrift Möbelhaus Salzburg trug.
Der Fahrer stieg aus, machte in der Garage Licht und nahm eine Schachtel aus dem Wagen. Als er sie aufmachte, enthielt sie nichts Schrecklicheres als Leberwurstbrote und eine Thermosflasche mit Kaffee. »Keinen Alkohol«, hatte Scharpinsky ihnen eingeschärft. »Wenn ich herausbekomme, daß Sie mir nicht gehorcht haben, werde ich dafür sorgen, daß man Sie abruft und sofort nach Hause beordert…« Der zweite Mann ging zu einem Wandtelefon und wählte eine Nummer. Ilse Murset nahm am anderen Ende ab.
»Hier Andre«, meldete sich der Mann. »Die Sendung ist jetzt lieferfertig…«
»Verstanden!« Ilse legte auf.
Der Mann, der Ilse angerufen hatte, kletterte in der Garage in die Fahrerkabine des Möbelwagens, zog die Persenning beiseite und prüfte die Ladung. Auch der Lastwagen enthielt nichts Schlimmeres als eine Ladung Möbel, war aber sehr schwer beladen, und die Ladeklappe ragte gefährlich nach hinten. Außerdem war da noch eine seltsame Seilrolle, die die Ladeklappe mit der Fahrerkabine verband.
»Alfred, hier ist deiner…«
Der Mann in der Fahrerkabine warf einen Overall herunter, kletterte dann selbst wieder hinab und ging dann zum hinteren Ende der Garage, wo mehr Platz war. In wenigen Minuten hatten beide sich umgezogen und sahen jetzt aus wie Möbelfahrer. Sie setzten sich auf eine Bank, aßen ihre belegten Brote und tranken ihren Kaffee. Der Fahrer sah in regelmäßigen Abständen auf seine Uhr.
Sobald sie die Kleidung des Gepäckträgers in der Lindengasse Nr. 451 abgeliefert hatten, fuhren Jaeger und Nacken wieder im Citroen davon und überquerten von neuem die Quaibrücke. Diesmal fuhren sie aber nicht in südlicher Richtung am Seeufer entlang, sondern bogen nach Norden ab und folgten der Limmat. Sie fuhren auf der Hauptstraße bergauf in Richtung Zürichberg. Sie durchfuhren gerade eine teure Wohngegend mit hübschen Villen und gepflegten Gärten, als Jaeger das Lenkrad herumriß und in eine Auffahrt einbog.
Hinter ihnen schloß ein Mann, der in der bitteren Kälte auf sie gewartet hatte, das schmiedeeiserne Tor. Jaeger hielt vor einer zweistöckigen Villa, von deren Balkon Eiszapfen herabhingen. Er stellte den Motor ab und stieg aus. »Checken Sie den Wagen«, befahl er Nacken. »Und vor allem die Maschine…«
Eine Frau von etwa fünfzig mit einem strengen Gesicht hatte den Wagen ankommen hören und öffnete die Vordertür. Sie ließ Jaeger eintreten und schloß die Tür wieder. Sie hatte das Haar hinten zu einem Knoten gebunden und trug ein langes dunkles Kleid, das ihr das Aussehen einer Haushälterin verlieh. »Ihre Kleidungsstücke liegen alle im großen Schlafzimmer bereit«, erklärte sie.
»Lassen Sie das hier verschwinden…« Jaeger reichte ihr seinen Ausweis. »Und wo ist der Reisepaß?« Sie sprachen in fließendem Russisch miteinander. Die Frau zog einen Reisepaß aus der Tasche und gab ihn ihm. Er prüfte ihn rasch. Der sowjetische Diplomatenpaß war auf den Namen Boris Wolkow ausgestellt; Rang: Hauptmann. Jaeger ging nach oben, um sich umzuziehen.
Der Tagesanzug, der auf dem Bett lag, hatte einen russischen Schnitt und war aus russischem Tuch. Jaeger
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