Lawinenexpreß
gehen.«
Zwei der Männer, die die Villa sofort nach Empfang der Anweisungen Scharpinskys verlassen hatten, gingen zu einem Citroen, der weiter unten auf der Straße abgestellt war. Der hochgewachsene und massive Klaus Jaeger, ein DDR-Bürger, setzte sich ans Steuer, während sein kleinerer und schlankerer Begleiter Hans-Otto Nacken, ebenfalls ein DDR-Bürger, sich neben ihn setzte. Beide hatten gefälschte westdeutsche Papiere bei sich. Nach nur wenigen Minuten näherten sie sich dem Hauptbahnhof.
Jaeger hielt nicht direkt vor dem Hauptbahnhof, sondern fuhr den Citroen um das Bahnhofsgebäude herum, wo er ihn im Schatten parkte. Beide Männer stiegen aus und betraten den Bahnhof durch den Seiteneingang. Sie schlenderten an der Gepäckaufbewahrung vorüber. Um nicht aufzufallen, trug Jaeger eine Reisetasche. Sie gingen mehrere Minuten umher und beobachteten die Gepäckträger, die auf die Ankunft der Nachtzüge warteten.
»Der da drüben«, sagte Jaeger, blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. »Der hat in etwa den richtigen Körperbau und die richtige Größe.«
Nacken ließ Jaeger stehen und schlenderte zu dem relativ kleinen und gutgebauten Gepäckträger hinüber, der in seiner Erscheinung eine gewisse Ähnlichkeit mit Scharpinsky besaß. »Ich sehe an der Anzeigentafel, daß der Atlantik-Expreß erst um elf abfährt. Ich habe mich in der Zeit vertan und habe also eine lange Wartezeit vor mir. Die Zeiten auf der Tafel stimmen doch, oder?«
»Ja, mein Herr. Und es ist ein Wunder, daß der Zug aufholt. Haben Sie die Nachricht gehört?«
»Welche Nachricht?«
»Südlich des Gotthards hat es eine Lawine gegeben – die schlimmste dieses Jahrhunderts, sagt man. Sie hätte den Expreß um ein Haar unter sich begraben.«
»Mein Gott! Nein, davon habe ich nichts gehört. Nun, zwischen hier und Basel kann es Gott sei Dank keine Lawine geben.« Er bot dem Gepäckträger eine Zigarette an. »Muß ‘ne ziemlich langweilige Arbeit für Sie sein – hier die ganze Nacht herumzuhängen. Wie lange haben Sie noch Dienst?« fragte er beiläufig.
Der Gepäckträger nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. »Morgen früh um acht ist meine Schicht zu Ende. Man gewöhnt sich daran…«
Nacken plauderte noch einige Minuten weiter und ging dann Weg. Er steckte die linke Hand in die Manteltasche. Das war das Signal, auf das Jaeger, der aus der Ferne zusah, gewartet hatte. Er ging zu dem Gepäckträger hinüber. »Könnten Sie das restliche Gepäck aus meinem Wagen holen? Er steht an der Stirnseite des Bahnhofs.« Er stellte die Reisetasche, die er bei sich hatte, auf den Karren des Gepäckträgers und folgte dem Mann nach draußen. Sie gingen an der Gepäckaufbewahrung und einem schlechtbeleuchteten Seitengewölbe vorbei. Niemand sonst war zu sehen.
Als sie den Citroen erreicht hatten, öffnete Jaeger die hintere Tür. Er sah sich um, um sicherzugehen, daß sich niemand in der Nähe befand. »Der Koffer da auf dem Rücksitz«, sagte er. »Seien Sie vorsichtig, er ist schwer…« Als der Gepäckträger sich hineinbeugte, zog Jaeger einen kleinen lederbezogenen Totschläger aus Stahl aus der Tasche, beugte sich über den Gepäckträger und schlug ihm mit beträchtlicher Kraft auf den Kopf. Der Mann brach tot zusammen.
Nacken löste sich aus dem Schatten des Bahnhofs und half Jaeger, den Leichnam im Wagen zu verstauen. »Der Gepäckkarren…«, erinnerte Jaeger seinen Begleiter, als er ein Reiseplaid über den leblosen Körper breitete. Nacken rollte den Gepäckkarren in den Schatten des Bahnhofsgebäudes zurück. Sie würden das Ding später noch brauchen. Dann setzten sich die beiden Männer auf die Vordersitze, schlossen leise die Türen, und Jaeger fuhr los, zunächst über die Limmatbrücke.
Er fuhr zu einem stillen Teil des Sees jenseits der Quaibrücke und hielt am Ufer unter einer Baumgruppe an. Dann stellte er den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Es bedurfte der Anstrengungen beider Männer, um den toten Mann zu entkleiden, ihm seine Uniform, Mütze und Stiefel abzunehmen. Jaeger nahm seine Brieftasche an sich und prüfte im Schein einer Taschenlampe, ob der Eisenbahnerausweis des Toten dabei war. »Das wär’s«, sagte Jaeger. »So, und jetzt müssen wir den Kerl verschwinden lassen…«
Sie umwickelten den Leichnam mit schweren Ketten – dem Inhalt des schweren Koffers, auf den Jaeger den Gepäckträger aufmerksam gemacht hatte – und trugen ihn gemeinsam zum See hinunter. An
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