Lawinenexpreß
des sowjetischen Verteidigungsministers, floß der Wodka bereits in Strömen. Pratschko, ein bulliger achtundfünfzigjähriger Mann mit einem mächtigen Brustkorb, war in voller Uniform erschienen. Seine Brust schmückten viele Reihen von Orden. ›Genug, um eine Pfandleihe in der First Avenue auszustatten‹, dachte Leroy säuerlich. Pratschko war ganz offensichtlich dabei, jeden anderen betrunken zu machen. Er bestand auf einem Trinkspruch nach dem anderen.
»Entspannung! Entspannung! Ist jemand da, der sich weigert, darauf mit mir anzustoßen? Dann soll er sich zeigen und als Feind des Friedens zu erkennen geben!«
Leroy beobachtete ihn unauffällig, bemerkte die brutale Nase, das aggressive Kinn, die aus Ohren und Nasenlöchern herausragenden Haarbüschel. ›Haargenau der Dreckskerl, als der er beschrieben wird‹, dachte Leroy. ›Und Gott sei denen gnädig, die unter ihm dienen…‹ Leroy blieb immer in Bewegung! Er hielt nach einem bestimmten Mann Ausschau, einem Mann, von dessen Aussehen er seltsamerweise keine Beschreibung hatte. War es möglich, daß sich in dieser großen Menschenmenge auch Oberst Igor Scharpinsky befand?
Für westliche Geheimdienstchefs war der stellvertretende Leiter des KGB, Scharpinsky, nur ein Schatten. Sogar so sehr, daß man ihm den Spitznamen Oberst Schatten gegeben hatte. Über ihn war buchstäblich nichts weiter bekannt, als daß es ihn gab, und das Washingtoner Dossier über ihn bestand nur aus einer einzigen Seite mit wenigen Zeilen. Selbst diese wenigen Zeilen enthielten nur vage Informationen und nichts wirklich Greifbares. ›Man munkelt, daß er der Verbindungsoffizier zum GRU ist, dem militärischen Abschirmdienst der Sowjets.‹ Und das war schon fast alles.
Einen Augenblick später entdeckte Leroy ein weiteres wichtiges Politbüromitglied. Auch dieser Mann pflegte nicht gerade romantische Gefühle zu wecken. Überrascht – der Mann war auf der Gästeliste nicht verzeichnet gewesen – tat Leroy so, als nähme er noch einen Schluck Bourbon, während er einen der gefürchtetsten Männer der Welt in Augenschein nahm. General Sergej Marenkow, den Chef des KGB. Der Chef der sowjetischen Geheimpolizei hielt sich am Rand der Menge, als wollte er jeden der Anwesenden unter die Lupe nehmen.
Marenkow, der einen dunkelblauen Anzug trug, war ein klein wüchsiger, untersetzter Mann von fünfundfünfzig mit breiten Schultern. Er stand ruhig da; sein Gesicht mit dem kräftigen Kinn zeigte keinerlei Ausdruck. Als er unter buschigen Augenbrauen hervorblickte, schien er jeden der beim Empfang anwesenden Gäste einzuordnen – und genau das dürfte der KGB-Chef auch getan haben, dachte Leroy. Anders als bei seinem mysteriösen Stellvertreter, Oberst Scharpinsky, besaß Washington über Marenkow ein acht Zentimeter starkes Dossier. Der General war dafür bekannt, ein enzyklopädisches Gedächtnis zu haben. ›Ich könnte wetten, daß er jeden einzelnen Mann in unserer Botschaft kennt – weiß, welchen Job er hat und wann er pinkeln geht‹, sagte sich Leroy.
Marenkow begann plötzlich, sich um die Menge herumzubewegen. Inzwischen war der Raum von Lärm, lautem Stimmengewirr und endlosem Gläsergeklirr erfüllt. Anatolij Sarubin wurde nicht müde, zu plaudern und zu scherzen. Leroy nutzte seine Gelegenheit, als Marenkow an ihm vorüberging. Er hob sein Glas: »Frieden und guter Wille, um alles in der Welt, General…« Marenkow sagte etwas auf russisch und stieß mit Leroy an. Seine braunen Augen starrten den Amerikaner hart an, dann ging er weiter. Es war keine sonderlich freundliche Begegnung gewesen, aber Leroy hatte der Chance nicht widerstehen können, den KGB-Chef aus nächster Nähe zu studieren – wenn auch nur für wenige Sekunden.
Am Ende des Abends hatte Leroy das Gefühl, nichts ausgerichtet zu haben. Er hatte ganz gewiß niemanden entdeckt, der Igor Scharpinsky hätte sein können, niemanden, der sich in der Nähe Marenkows gehalten hätte. Es war ein interessanter Abend gewesen, etwas, was in seinem Abschlußbericht brauchbar sein würde, aber mehr nicht. Der Schock kam, als die Party vorüber war.
Als er nach Mitternacht in sein Zimmer zurückgekehrt war, um seine Koffer fertig zu packen – er wollte am nächsten Morgen die Frühmaschine nach Frankfurt nehmen –, langte er in die Jackentasche nach seinen Zigaretten und erstarrte. Soeben noch erschöpft von dem Gefühl der Enttäuschung, das so manchem Fest ein Ende macht, war er jetzt hellwach. In der Tasche
Weitere Kostenlose Bücher