Lawinenexpreß
Mann.
Marenkow hatte aber auch schon selbst begonnen, sich um die Entwicklung in seinem Land zu sorgen. Er verabscheute die großspurige, herablassende Art seines Kollegen Marschall Pratschko, hielt seine Gefühle aber sorgfältig verborgen. Er wußte, daß die sowjetische Aufrüstung bei weitem das Maß überstieg, das zur Verteidigung gegen den Westen notwendig war. Dann wurde Oberst Igor Scharpinsky zu seinem Stellvertreter ernannt.
Es dauerte einige Zeit, bis Marenkow aufging, daß Scharpinsky ein Schützling Pratschkos war, den man in die Position des stellvertretenden Chefs des KGB manövriert hatte, um die Macht des GRU zu stärken – des militärischen Abschirmdienstes der Sowjetunion. Die offizielle Aufgabe Scharpinskys bestand darin, die Zusammenarbeit mit dem GRU zu intensivieren, aber insgeheim unterstützte er jedes Vorhaben Pratschkos. Dann kehrte Marenkow eines Abends spät in seine Wohnung am Kutusow-Prospekt 26 zurück und fand Irina tot auf. Sie hatte eine Überdosis Schlaftabletten genommen und einen kurzen Abschiedsbrief hinterlassen. Als mutmaßliche Dissidentin bin ich zu einer Belastung für Dich geworden. Ich liebe Dich zu sehr, um Dich zu vernichten. Statt dessen töte ich mich selbst.
Marenkow, der noch nie in seinem Leben eine Träne vergossen hatte, weinte eine Stunde lang. Drei Tage lang blieb er allein in der Wohnung und ließ niemanden zu sich. Dann setzte er eine Untersuchung in Gang. Er brauchte nur drei Tage, um herauszufinden, daß man – während er sich in der DDR aufhielt – eine Gerüchtekampagne gegen seine Frau begonnen hatte, die man subversiver Aktivitäten verdächtigte. Die Quelle dieser politischen Brunnenvergiftung war Oberst Igor Scharpinsky.
Marenkows verschwiegene Natur, die ihn – neben anderen Qualitäten – in die Dienste des KGB gebracht hatte, kam ihm jetzt gut zustatten. Er blieb eine Nacht bis zum Morgengrauen auf und dachte nach. Dann hatte er seine Entscheidung getroffen. Von nun an würde er gegen das pervertierte System arbeiten, das seine Frau in den Tod getrieben hatte und dabei war, sein Land zu zerstören. Er wurde zu Angelo.
Der hochintelligente Marenkow wußte nur zu gut, daß seine Zeit früher oder später um sein würde. Da war zum Beispiel im November dieser besorgniserregende Vorfall auf dem Moskauer Bahnhof gewesen, als er – nur eine Minute, nachdem er die neueste Kassette im Schlafwagen versteckt hatte – aus dem Waggon gesprungen war und sich urplötzlich Hauptmann Starow vom GRU gegenübergesehen hatte, der den Schlafwagen gerade hatte besteigen wollen, um ihn zu untersuchen. Mit charakteristischer Entschlossenheit hatte Marenkow Starow sofort mit zwei Schüssen getötet und ihm dann die Handgranate in die Hand praktiziert, die er immer in der Tasche trug, die Handgranate, die er selbst sofort entsichert und mit der er sich selbst in die Luft gejagt hätte, hätte man ihn je entdeckt und festnehmen wollen.
Als die Troika Leonid Sedow, Marschall Pratschko und er selbst eingesetzt worden war, um den Verräter auf höchster Ebene aufzuspüren, hatte er sich in der makabren Rolle eines Mannes wiedergefunden, der sich selbst zur Strecke bringen soll. Um ein wenig Zeit zu gewinnen, ließ er den Eindruck aufkommen, als verdächtige er Anatolij Sarubin, den er von Anfang an als nützlichen Schutzschild betrachtet hatte. Er hatte sich sogar Sarubins Vorliebe für amerikanischen Jazz zunutze gemacht, als er in den Kassetten darum bat, man möge über das Programm der Voice of America bestimmte Jazzplatten senden, um die sichere Ankunft der Kassetten in Washington zu bestätigen. Und dieser angebliche Verdacht gegenüber Sarubin war auch der Vorwand gewesen, mit dem er sich der sowjetischen Delegation, die Bukarest besuchte, als Begleiter angeschlossen hatte.
Und jetzt befand er sich in achttausend Fuß Höhe über Jugoslawien in einer Düsenmaschine, die von einem Engländer gesteuert wurde. Dabei war Marenkow sich bewußt, daß jeder Kilometer seiner langen Reise in die Vereinigten Staaten voller Gefahren sein würde – daß KGB und GRU sämtliche Kräfte mobilisieren würden, um ihn und seine Beschützer zu töten. Eine sichere und gefahrlose Reise stand ihm nicht bevor.
Nur wenige Minuten, nachdem Wargrave sich wieder in der Luft befand, verließ ein kleiner Konvoi von Automobilen das rumänische Flugfeld und fuhr mit hoher Geschwindigkeit nach Bukarest zurück. Als Marenkows Flucht ruchbar wurde, nahm Ion Manescu, der Chef der
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