Lawinenexpreß
seinen Sessel in der Touristenklasse zurück und studierte den Katalog von Sotheby’s durch seine dicken Brillengläser, während die DC-10 schnell an Höhe gewann. Als die Stewardeß ihn fragte, was er zu trinken wünsche, antwortete er höflich, aber ein wenig unentschlossen.
»Haben Sie vielleicht irgendeinen… Schnaps?« fragte er freundlich. »Das beruhigt den Magen ein bißchen.« Er lächelte entschuldigend. »Ich bin kein sehr guter Fluggast, wissen Sie…«
»Verstehe, mein Herr. Seien Sie unbesorgt – Sie bekommen ihn sofort.«
Hinten in der Kombüse bemerkte die Stewardeß zu ihrer Freundin, ausnahmsweise habe sie bei diesem Wetter mal einen höflichen Fluggast. »Er ist wirklich ein Schatz«, fuhr sie fort, als sie den Drink einschenkte, »der typische zerstreute Professor.«
Seltsam, wenn man bedenkt, daß Heinz Golchack weniger als zwei Stunden zuvor in der Annagasse 821 von zwei in Mäntel mit Pelzkragen und Schals eingehüllten Männern Besuch bekommen hatte. Die beiden hatten mit tief in die Stirn gezogenen Hüten vor der Tür gestanden. Er hatte nur einen erwartet, nicht zwei. Dreißig Minuten vorher war er von einem Mann angerufen worden, der erklärt hatte, er sei ein Sammler seltener Bücher aus München; ob er Herrn Golchack besuchen dürfe?
»Ich habe einen Freund mitgebracht«, sagte der kleinere der beiden Männer, als Golchack in der Tür seiner Wohnung im fünften Stock stand, der einzigen Wohnung auf der Etage.
»Bitte, treten Sie ein. Ich habe noch etwas Kaffee warm gestellt…«
Heinz Golchack, ein nicht sehr großer, gutgebauter Mann, war zweiundfünfzig, Junggeselle, lebte allein und war fast ein Einsiedler – in Wien leben viele solche Menschen. Er schätzte seine Einsamkeit so hoch, daß er die Wohnung sogar selbst saubermachte. Er wollte gerade in die Küche gehen, als der kleinere Mann, der angerufen hatte, ihm von hinten mit einem Gummiknüppel einen brutalen Schlag auf den Kopf versetzte. Golchack war tot, bevor er zu Boden gefallen war.
Danach entwickelten seine beiden Besucher eine emsige Geschäftigkeit. Sein Mörder holte eine Gazekappe hervor, die er dem toten Antiquar über den Kopf zog, damit kein Blut auf den Teppich floß. Sein Begleiter sah immer wieder in eine Liste und hakte einen Punkt nach dem anderen ab, sobald er erledigt war. Eine Reisetasche aus dem Schlafzimmer wurde mit den Kleidungsstücken gepackt, die Golchack für eine Reise benötigt hätte. Seine Toilettensachen wurden aus dem Badezimmer geholt, sein Paß befand sich in einer Schublade.
Während einer der Männer die Reisetasche packte, leerte sein Begleiter die Kaffeekanne, die er auf dem Ofen gefunden hatte, wusch sie aus, trocknete sie ab und stellte sie zusammen mit den beiden Tassen, die Golchack schon bereitgestellt hatte, in den Küchenschrank. Kurz bevor sie die Wohnung verließen, zog der Mann, der Golchack getötet hatte, einen maschinengeschriebenen Zettel aus der Tasche und legte ihn auf einen Schreibtisch. Der Zettel stammte von einem Notizblock mit Swissair-Aufdruck und zeigte Abflug- und Ankunftszeit des Swissair-Fluges 433 nach Zürich.
Die beiden Männer verschlossen die Wohnung Golchacks mit den Schlüsseln, die sie in seiner Tasche gefunden hatten, und trugen seine Leiche und die Reisetasche über eine Wendeltreppe an der Rückfront des Hauses nach unten. Dort legten sie Leiche und Tasche auf den Rücksitz des alten Mercedes, den sie bei der Ankunft auf dem gepflasterten Innenhof geparkt hatten. Dann fuhren sie über den Hof durch die Ausfahrt mit dem massiven Doppeltor auf die Annagasse hinaus. Ein Motorradfahrer, der am Bordstein hielt, sah sie abfahren, betätigte den Kickstarter und fuhr mit hoher Geschwindigkeit zur sowjetischen Botschaft zurück, um Vollzug zu melden.
In einem abgelegenen Teil des Wienerwalds fuhren die beiden Männer den Mercedes rückwärts in einen alten Waldweg, bis sie an den Rand einer tiefen Grube kamen. Sie brauchten weniger als fünf Minuten, um die Reisetasche und den Leichnam hineinzuwerfen, mehrere Benzinkanister darüberzugießen und das Ganze mit benzingetränkten Lappen in Brand zu setzen. Als die Flammen ausgegangen waren und nur noch öliger Gestank und Rauch übrig waren, schaufelten sie Schnee über die Überreste. Anschließend fuhren sie zurück zur sowjetischen Botschaft.
Dies alles war schon vor Monaten geplant worden, als Agenten Heinz Golchack als möglichen Kandidaten für einen Identitätswechsel im Notfall ausfindig
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