Lawinenexpreß
Nachricht vom Tod des Engländers keinerlei Gefühlsregung gezeigt. Diese gottverdammten Europäer, dachte Leroy. Kalt wie Hundeschnauzen und großmäulig.
»Hat Haller oder sonst jemand die Leiche gesehen?« beharrte Necker.
»Nein.«
»Verstehe…«
Leroy wußte nicht, ob er sich würde beherrschen können, und verließ das Funkabteil. Er ging zum Abteil drei zurück, in dem Haller und Elsa Marenkow bewachten. Phillip John trat zur Seite, um ihn in den letzten Waggon eintreten zu lassen. »Sie sehen aus, als hätten Sie eine Kröte verschluckt«, bemerkte der Engländer mit seiner sanften Stimme. »Sie vermissen wohl die Coca-Cola, was?«
Leroy gab ihm einen unsanften Schlag auf den Arm. »Genau das habe ich getan, mein Lieber, also lassen Sie diese neunmalklugen Sprüche. Außerdem sieht man Ihre dritte Brustwarze…« Er berührte Johns Schulterhalfter. Eine rasche Bewegung, und Leory sah sich der Mündung der Luger gegenüber. »Na schön«, gab er zu, »mit dem Kracher sind Sie wirklich schnell…« Als er in den letzten Schlafwagen verschwand, steckte John die Waffe ins Halfter und machte den obersten Mantelknopf auf. Der Mantel hatte so gespannt, daß die Umrisse der Pistole zu sehen gewesen waren. John war ein Mann, der sich durchaus etwas sagen ließ.
Leroy klopfte an die Abteiltür und ließ die verabredete Prozedur über sich ergehen – die Tür ging einen Spaltbreit auf, Haller starrte hinaus, einen 45er Colt in der Hand, und ließ ihn dann eintreten. Leroy war erleichtert, zu sehen, daß die Stimmung sich wenigstens äußerlich ein wenig gebessert hatte. Jeder gab sich Mühe, seine düsteren Gedanken zu verbergen. Marenkow war dabei, eine Patience zu legen; als Leroy eintrat, langte Elsa hinüber und legte eine Karte an die richtige Stelle. »Necker hat eben wieder eine Meldung an Springer geschickt«, sagte Leroy zu Haller.
»Wir werden bald in Chiasso sein«, bemerkte der Amerikaner. Er hob den Fenstervorhang ein wenig, als der Expreß durch den Bahnhof von Como fuhr, und zog ihn dann wieder herunter. Er konnte nicht ahnen, daß der Expreß bei seiner Fahrt durch die Nacht aus einem Fenster im vierten Stock eines Wohnhauses in der Nähe des Schienenstrangs beobachtet wurde. In dem abgedunkelten Zimmer saß der Wohnungsinhaber und beobachtete das Vorübergleiten des langen Glühwurms. Er schloß die Vorhänge, machte das Licht an, öffnete einen Schrank, drückte auf einen verborgenen Schalter, der eine Klappe öffnete. Dahinter verbarg sich ein leistungsstarkes Sendegerät. Der Mann begann zu funken. Als der Expreß sich Chiasso näherte, lag Joseph Laurier entspannt auf dem Bett seines Singleabteils im zweiten Schlafwagen. Er sah auf seine Uhr und wurde wieder unruhig. Er ließ seine langen Beine auf den Fußboden gleiten, nahm das Messer mit Knochenhandgriff, das er unter dem Kopfkissen versteckt hatte, und steckte es in die dicke Wollsocke an seinem rechten Bein. Als er seinen schweren Astrachan-Mantel überzog und den Tirolerhut aufsetzte, wurde der Zug langsamer. Als der Expreß anhielt, nahm Laurier seinen Stock.
Es war 18 Uhr 05, als der Atlantik-Expreß am Schweizer Grenzbahnhof mit seinem riesigen Verschiebebahnhof hielt, an dem Schweizer Grenz- und Zollbeamte die Züge besteigen. Es hatte aufgehört zu schneien. Nach dem ständigen Rattern der Räder senkte sich eine unheimliche Stille über das Innere des Zuges. Der Bahnsteig draußen war menschenleer. In Abteil drei nahm Elsa ihre Pistole und legte sie sich auf den Schoß.
»Sie erwarten Ärger?« fragte Marenkow.
»Wir sind in Chiasso. Jeder Aufenthalt kann Gefahr bringen. Würden Sie mit Ihrer Patience aufhören, bis wir wieder fahren? Ich möchte nicht durch irgend etwas abgelenkt werden…«
»Dann werden Sie Ihre Beine verstecken müssen – wenn Sie wollen, daß ich nicht abgelenkt werde.«
Elsa zwang sich zu einem Lächeln: Der Russe versuchte, sie in diesem Moment höchster Anspannung aufzumuntern. Haller war auf den Gang hinausgegangen, um Wache zu halten, und sie spürte die Last der Verantwortung, Marenkow allein zu bewachen – und er hatte wieder einmal intuitiv erfaßt, wie es um sie stand.
Draußen auf dem Bahnsteig schlurfte Laurier vor dem dritten Schlafwagen auf und ab; er wirkte wie ein Mann, der nach der überheizten Luft im Zug ein wenig frische Luft braucht. Er bemerkte Anzeichen dafür, daß sich etwas tat. Aus dem Wartesaal erschienen drei neue Fahrgäste; alle drei waren Männer und trugen zum
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