Lawinenexpreß
Schutz gegen die Kälte dicke Pelzmäntel. Sie reisten offensichtlich gemeinsam. Mit ihren Koffern und Reisetaschen stiegen sie in einen Zweiter-Klasse-Waggon ein und schlugen die Tür zu. Laurier beobachtete sie und drehte sich dann um, um das hintere Ende des Bahnsteigs zu beobachten.
Kurz hinter dem Ende des Zuges versperrte eine mehr als zwei Meter hohe Zeltplane, die Sicht auf den dahinterliegenden Teil des Bahnhofs. Irgendwo in der Ferne hörte Laurier das Rumpeln näher kommender Räder. Er warf wieder einen Blick nach links, als ein vierter Reisender aus dem Wartesaal kam und auf den Expreß zuschlenderte. Dies war ein weit auffallenderer Mann als die drei Durchschnittstypen, die den Zweiter-Klasse-Wagen bestiegen hatten.
Der Neuankömmling, der selbst an diesem bitterkalten Abend ohne Hut ging, war einen Meter fünfundachtzig groß, trug einen langen blauen Mantel und rauchte eine Pfeife. Als er unmittelbar vor Laurier vorüberging, fielen diesem die hervorstehenden Wangenknochen, die kräftige Nase, der gepflegte Schnurrbart, der ebenso schwarz war wie das dichte Haupthaar, das harte Kinn und die dunklen wachen Augen auf. Der Mann ging mit gleichmäßigen, beherrschten Schritten. Alles an ihm ließ verborgene Kraftreserven ahnen. Er steckte sich das schlanke Aktenköfferchen unter den Arm, zerrte mit beiden Händen an dem zugefrorenen Türgriff und verschwand in einem Erster-Klasse-Waggon.
Etwa zehn Minuten lang geschah nichts weiter, und dann gab es eine dumpfe Erschütterung, und der Expreß erbebte leicht. Ans hintere Ende des Zuges war irgendein Waggon angehängt worden. Laurier stieg wieder ein, und als er wenige Minuten später aus seinem Abteilfenster blickte, sah er ein halbes Dutzend Schweizer Grenz- und Zollbeamte einsteigen. Was höchst ungewöhnlich ist, dachte Laurier; normalerweise bestiegen in Chiasso nur je zwei Grenz- und Zollbeamte die nach Norden fahrenden Züge.
In Abteil drei fuhr Elsa zusammen, als der Zug unter dem dumpfen Anstoß erbebte. »Was um Himmels willen war das?« fragte sie Haller, der soeben ins Abteil zurückgekommen war.
»Die rangieren wohl, nehme ich an. Hier gibt’s einen großen Verschiebebahnhof…«
Wenige Minuten später setzte sich der Expreß wieder in Bewegung; er fuhr jetzt auf das Ostufer des Luganer Sees, auf den Damm zu, der die Züge zum westlichen Ufer bringt. In Abteil drei war sich niemand der Bedeutung des dumpfen Aufpralls bewußt, der den Zug erschüttert hatte. Ans Ende des Zuges war ein offener Güterwagen angehängt worden – und auf dem Güterwagen stand ein mit Ketten befestigter Alouette-Hubschrauber, dessen Rotorblätter parallel zu den Außenwänden des Güterwagens gelegt worden waren.
»Ich glaube, ich vertrete mir ein bißchen die Beine«, sagte Elsa.
»Hast du etwas dagegen?« fragte sie Haller. »Ich kriege noch Platzangst, wenn ich weiter in diesem Abteil eingesperrt bleibe.«
»Solange du in den beiden letzten Schlafwagen bleibst«, erwiderte der Amerikaner.
»Es geht nicht nur darum, daß ich mir ein bißchen Bewegung verschaffe…« Elsa hatte ihre Reisetasche geöffnet und setzte sich jetzt ihre dunkle Perücke auf. »Vielleicht ist es gut, daß ich mir die Reisenden einmal ansehe – es könnte sein, daß mir etwas auffällt.« Sie setzte ihre dunkle Hornbrille auf und zog den militärisch geschnittenen Regenmantel an, den sie in Basel bei der Übernahme der Kassetten von Peter Necker immer getragen hatte. »Wenn ich so aussehe, wird mich niemand erkennen. Das hoffe ich jedenfalls nicht«, fügte sie mit gespielter Entrüstung hinzu.
»Also gut, aber sei vorsichtig«, sagte Haller zögernd. »Vielleicht ist es eine gute Idee«, setzte er hinzu.
Haller hatte sich rasch anders entschieden. Nicht weil er der Meinung war, sie könne tatsächlich etwas Auffälliges entdecken – aber ein kleiner Rundgang konnte dazu beitragen, ihr etwas von der Anspannung zu nehmen, die durch die schockartige Nachricht von Wargraves Tod ausgelöst worden war.
Elsa dachte an Harry Wargrave, als sie durch den hin und her schwankenden Gang schritt und dann wartete, während Phillip John die Tür des zweiten Waggons aufschloß. In Mailand, als Wargrave noch die Bahnfahrt geplant hatte, hatte er ihr eine Anweisung gegeben. »Zieh dir hinter Chiasso die Sachen an, die du in Basel getragen hast, und mache einen Gang durch den Zug. Sieh dir die Fahrgäste gut an – du könntest jemanden entdecken. Der Vorschlag muß aber von dir selbst kommen
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