Lawinenexpreß
gefährliche Situation entwickelt …
Es war ein in eine Wand eingebauter Schreibschrank, der schließlich ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie ließ die Platte herunter und studierte das Innere. In den Fächern standen zwei Bücher übers Bergsteigen, aber im übrigen fehlten die Papiere und sonstige Kleinigkeiten, die man gewöhnlich in einem solchen Möbelstück findet, und das fiel Anna auf. Ihre geübten Finger begannen, die Innenseite der Fächer zu betasten. Sie drückte und fühlte vor. Plötzlich drückte ihr rechter Zeigefinger etwas ein. Sie vernahm ein leichtes Surren von einem kleinen Elektromotor, und darauf glitt ihr das gesamte Schubfach entgegen, bis es über der Schreibplatte stehenblieb. Dahinter verbarg sich ein zweites Sendegerät.
Vielleicht ist das nur ein Ersatzsender für den Fall, daß der andere einmal ausfällt, überlegte sie. Die Unterbringung des Ersatzsenders ist ausgeklügelt, aber das wahrscheinlich nur, um ihn vor der Zerstörungswut von Einbrechern zu schützen. Wahrscheinlich… Sie drückte wieder auf dieselbe Stelle im Schubfach, worauf es wieder in seine ursprüngliche Position zurückglitt. Jetzt war wieder nichts von dem zu sehen, was sich dahinter verbarg.
Eine volle Minute lang blieb sie vor dem Schreibschrank stehen. Sie hatte die Schreibplatte wieder hochgeklappt. Dann tat sie etwas Merkwürdiges. Sie nahm einen der tropfenförmigen Ohrringe ab, die sie trug, hielt ihn in der Hand und suchte dann mit der Taschenlampe nach einem nicht von einem Teppich bedeckten Stück Parkett. Dort ließ sie den Ohrring fallen und verließ anschließend das Haus durch die Hintertür, bestieg ihren Renault und fuhr nach Andermatt zurück.
In ihrem Zimmer im Hotel Storchen ging sie zu der Schublade, in der ihr Schmuckkästchen lag, schloß es auf und entnahm ihm ein Armband und eine falsche Perlenkette. Sie legte ihren zweiten Ohrring dazu und steckte dann alles in ihren weiten Autohandschuh. Sie verließ ihr Zimmer und ging wieder hinaus. In einer verlassenen Straße fand sie einen mit Eis überzogenen Gully. Sie zerstampfte das Eis mit dem Stiefelabsatz und warf den gesamten Schmuck in den Gully. Als sie zum Storchen zurückging, konnte sie förmlich die vertraute Stimme hören. »Denk an die Details, Anna – du darfst niemals eine Kleinigkeit übersehen, die deinen Tod bedeuten kann…«
Um 18 Uhr 15 landete der Sikorsky-Hubschrauber Robert Freys wieder auf dem Bauernhof. Es war Emil Platow, der den Einbruch entdeckte. Robert Frey ging, gefolgt von den anderen vier Männern, die nach ihm der Maschine entstiegen waren, durch die Vordertür und betrat anschließend sofort sein Arbeitszimmer. Er warf seinen Parka auf einen Stuhl und setzte sich hin, um seine kurze Meldung fürs Lawineninstitut niederzuschreiben. Keine nennenswerte Erhöhung der Schneedecke auf dem Wasserhorn. Habe die Zahlen mit denen des Vorjahrs verglichen, und wenn man die als Maßstab zugrunde legt…
Frey bemerkte plötzlich, daß ihm jemand über die Schulter sah. Er drehte sich um und entdeckte, daß Erich Volcker, ein kleiner, dicker, kahlköpfiger Mann von fünfundvierzig, hinter ihm stand. »Ich kann diesen verdammten Bericht nicht zu Ende bringen, wenn Sie mir zusehen«, polterte er.
»Tut mir leid…«
»Es ist eingebrochen worden…« Emil Platow, der kleinwüchsige, magere Schweizer mit dem braunen Haar und den Koteletten, kam plötzlich ins Arbeitszimmer gelaufen. »In unserer Abwesenheit ist jemand hier gewesen. Eine Glasscheibe der Hintertür ist eingeschlagen worden…«
»Beruhigen Sie sich, Emil«, tadelte ihn der hünenhafte Bergsteiger.
Er stand auf, stemmte die Hände in die Hüften und sah sich im Zimmer um. Er bemerkte, daß der Schreibschrank in der Wand geschlossen war, und ließ seine Augen weiterwandern. Die andern fünf Männer, durch seine Anwesenheit eingeschüchtert, blieben völlig reglos und still stehen. Freys Augen setzten die Suche fort; er ließ den Blick über das Mobiliar gleiten und besah sich dann den Fußboden. Er machte zwei lange Schritte, bückte sich, stand auf und ließ den Ohrring zwischen den Fingern baumeln. Er lächelte Erich Volcker an.
»Ich kenne dieses Ding. Wie dumm von ihr, ihre Visitenkarte dazulassen, nicht wahr?«
17. Der Gotthard
Diese gigantische Schlucht, die von der wichtigsten Eisenbahnverbindung von Mitteleuropa zum Mittelmeerraum durchfahren wird, ist in ihrer ehrfruchtgebietenden Großartigkeit eines der Wunder dieser Welt
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