Lawinenexpreß
– sie kann es sogar mit dem Grand Canyon in Arizona aufnehmen. Der Schienenstrang klettert schier endlos empor, passiert spiralförmige Tunnel und windet sich beim Aufstieg um dreihundertsechzig Grad, überquert abgrundtiefe Schluchten und Einschnitte, wobei die eindrucksvollen Alpengipfel auf beiden Seiten zum Greifen nah erscheinen.
Im Sommer ist dieser Paß eindrucksvoll genug, aber im Winter kann er einem fast Angst einflößen. Hoch oben an den fast senkrecht aufragenden Felswänden liegen Millionen Tonnen Schnee – oft braucht nur ein Skifahrer über einen Abhang zu fahren, und eine Lawine donnert zu Tal. In der Nähe von Airolo, der kleinen Stadt am Südende des strategisch wichtigen Tunnels, der das Alpenmassiv durchquert und am Nordende auch unter Andermatt hindurchführt, ragen riesige Felsbrocken über dem Schienenstrang in die Luft. An vielen Stellen ist die Bahnlinie von Lawinenschutzgittern gesäumt.
Dies ist Lawinenland.
Es war der Gotthard, der Wargrave Sorgen machte. Der Gotthard beschäftigte auch Oberst Springer so sehr, daß er von Lugano abgeflogen war, um in Bellinzona den Atlantik-Expreß zu besteigen. Und in der Gestalt Joseph Lauries ging Wargrave auch jetzt noch ruhelos durch den Zug. Vor sich in dem sonst leeren Gang sah er den hünenhaften Spanier Jorge Santos, der sich gegen die Wand lehnte und seine Pfeife paffte. Wargrave blieb neben Santos stehen und hängte seinen Stock an einen Haltegriff.
»Auch Sie, mein Freund, finden diese Reise ziemlich beunruhigend – und bald werden wir in einer Gegend sein, die für die griechischen Götter wie geschaffen erscheint, an einem veritablen Olymp«, bemerkte Laurier in fließendem Französisch.
Santos’ schwarze Augen warfen dem Ankömmling einen aufmerksamen Blick zu. Dann zuckte er die Achseln. »Diese langen nächtlichen Bahnfahrten sind recht anstrengend.« Er machte eine Pause und sog an seiner Pfeife. »Und dann diese seltsame Geschichte hinter Lugano, als der Expreß hielt. Ein Schweizer Bahninspektor hat mir erzählt, es sei eine Armeeübung gewesen. Glauben Sie das?«
»Ich glaube, es handelte sich um eine weit düsterere Angelegenheit«, erwiderte Laurier. »Wenn ich echtes Maschinengewehrfeuer höre, dann weiß ich, daß es sich nicht um eine Übung handelt. Da wurde nicht mit Platzpatronen geschossen.«
»Und jetzt fahren wir auf den Gotthard zu«, bemerkte Santos. »Ein Ort, der einem angst machen kann.«
»Wer weiß, was in einem Nachtzug alles passieren kann?« sinnierte Laurier. »Hier sind so viele Menschen, die einander fremd sind, für viele Stunden eng zusammengepfercht.« Er betrachtete das Profil des neben ihm stehenden Mannes, ein auffallendes Profil mit seiner Adlernase und den hervorstehenden Wangenknochen. »Ich fahre mit diesem Zug bis Amsterdam«, bemerkte er. »Sie auch?«
»Bis zur Endstation. Es wird also eine sehr lange Nacht werden…«
Im Expreß machte sich eine immer spürbarer werdende Spannung bemerkbar, als er sich über einen sanften Abhang auf die riesige Schlucht zubewegte. Im Schlafwagen wurde gerade das zweite Abendessen serviert, und die Kellner mußten mehr Getränke als Speisen auftragen. Reisende in ihren Abteilen, die sich eigentlich für die Nacht hätten hinlegen können, saßen aufrecht da und starrten aus den Fenstern auf die mondbeschienene Landschaft. Im letzten Schlafwagen des Zuges wurden den Reisenden Speisen aus einem Abteil gebracht, das Molinari in Mailand in eine provisorische Kombüse hatte verwandeln lassen. »Warum hätte man uns nicht einfach aus dem Speisewagen etwas zu essen bringen können?« wollte Marenkow wissen, der gerade in eine Pizza hineinbiß.
»Weil Gift eine der Waffen des KGB ist«, erwiderte Haller unverblümt.
»Mögen Sie Pizzas nicht?« fragte Elsa den Russen.
»Ich kriege alles runter«, erwiderte der Russe doppelsinnig.
Oberst Springer saß ihm gegenüber und aß ebenfalls eine Pizza von einem Pappteller; dazu trank er Kaffee aus einem Pappbecher. Er hatte den Russen bereits um eine Liste der in der Schweiz tätigen Agenten des KGB gebeten, und Marenkow hatte sich mit einem Blick auf Haller an die Stirn getippt. »In dem Augenblick, in dem ich mich in Schiphol an Bord der Boeing befinde, und sobald die Maschine sich dreißigtausend Fuß über dem Atlantik befindet, gebe ich Ihnen sämtliche Informationen, die Sie benötigen…«
»Ich brauche sie jetzt«, sagte Springer ihm in scharfem Ton. »Immerhin dient das auch Ihrem Schutz…«
»Das
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