Lawinenexpreß
Necker von jedem Verdacht freisprach, und er nickte. Er trug noch immer die strähnige graue Perücke Lauriers und die Zwei-Stärken-Brille, und wieder einmal dachte sie daran, wie schrecklich erschöpft er aussah.
»Wie wär’s mit etwas zu essen?« fragte sie. »Ich hoffe, du hast im Speisewagen etwas bekommen?«
»Nein.« Er zeigte auf seine Reisetasche. »Ich habe aus Mailand eine Thermoskanne mit Kaffee und ein paar belegte Brote mitgebracht. Wie sieht’s hinten im Abteil mit Marenkow aus?«
»Lausig. Springer hat versucht, Marenkow eine Liste mit Namen von Schweizer KGB-Agenten zu entlocken, aber der wollte nicht. Haller tritt als Friedensstifter auf. Aber da ist noch mehr.«
Er zündete eine Zigarette an und steckte sie ihr zwischen die Lippen, als sie auf dem Bett saß. »Was soll das heißen?« .
»Spannung – und sie wird ständig größer. Nur Phillip John, der jetzt übrigens gerade Wache hält, scheint von allem unbeeindruckt zu sein. Dieser eingebildete Dreckskerl. So wie ich es sehe«, fuhr Elsa fort, wobei sie die Beine übereinanderschlug und ihre Hornbrille abnahm, »besteht die Gefahr gerade darin, daß nichts weiter passiert ist. Es geht ihnen allmählich auf die Nerven – das Warten, die Untätigkeit. Und dennoch sind sie sicher, daß irgend etwas passieren wird, etwas Großes. Sie machen sich Sorgen wegen des Gotthards.«
»Ich auch…«
Wargrave schaltete das Licht aus und zog den Fenstervorhang hoch. Der Expreß nahm jetzt eine steile Steigung, fuhr durch endlose Kurven bei der Fahrt zu dem nicht mehr allzu weit entfernten Airolo. Und die großen Berge kamen immer näher an den Zug heran, die großen Gipfel, die Wargrave nur noch dann erkennen konnte, wenn er den Kopf beugte. Sie wurden vom Mond beschienen. Aus dem Schatten einer Schlucht ragte ein langer Eiszapfen wie ein Speer in die Nacht, ein Speer, der aus einem mitten in der Luft gefrorenen großen Wasserfall herausragte. Das Rattern der Räder hörte sich plötzlich anders an, als der Expreß auf eine Brücke fuhr, die eine tiefe Schlucht überspannte. Wargrave zog den Vorhang herunter und machte das Licht an. »Sind neue Wetterberichte gekommen?« fragte er. »Ich denke an das Wetter nördlich des Gotthards…«
»Schrecklich, sagt Springer. Da tobt ein fürchterlicher Schneesturm. Nur auf diesem Abschnitt zwischen Airolo und Chiasso hat es vorübergehend aufgehört zu schneien – und zwar nicht für lange, wie die Meteorologen meinen. Oh, ehe ich’s vergesse, und damit du etwas zum Freuen hast – es wird hier bald Föhn erwartet.«
»Ich glaube, der Föhn hat schon eingesetzt – man kann fast spüren, wie er den Zug von der Seite trifft…«
Wargrave nahm seine graue Perücke ab. Er nahm auch seine Zwei-Stärken-Brille ab und machte sich dann ein wenig zurecht. Er kämmte sich das Haar, und Elsa sah mit Sorge sein Erscheinungsbild, das jetzt nicht verkleidet war. »Mein Gott, du siehst müde aus – deine Augen sind blutunterlaufen. Wann hast du zuletzt geschlafen?«
»Weiß ich nicht mehr«, meinte Wargrave fröhlich. Es war Samstagnacht. Am vergangenen Freitagabend war er bis tief in die Nacht aufgeblieben, um mit Molinari bestimmte Details des vor ihm liegenden Unternehmens zu besprechen. Am Samstagmorgen hatte er den anstrengenden Flug nach Bukarest und zurück mit zwei ziemlich schwierigen Landungen hinter sich gebracht. Und seitdem er den Atlantik-Expreß bestiegen hatte, hatte er kein Auge zugetan. Er betrachtete sich im Wandspiegel. »So jetzt bin ich wieder der alte – so gefalle ich mir besser.«
»Warum gibst du die Verkleidung als Laurier auf?« fragte sie.
»Weil die Zeit da ist, wieder aufzutauchen – nach dem, was du mir erzählst, scheint die Moral dahinten in dem Schlafwagenabteil nicht besonders gut zu sein…«
»Ist das alles?« fragte sie leise. »Du erwartest, daß irgendwas passiert, nicht wahr? Und du wirst Julian einen unglaublichen Schock versetzen. Wie ich ihn kenne, wird er aus der Haut fahren«, sagte sie warnend.
Er umfaßte ihre Schultern. »Jetzt hör auf mit diesem ängstlichen Getue und geh zurück zu den anderen. Erzähl ihnen kein Wort von mir. Nicht ein Wort.«
»Wenn du meinst…«
Wargrave wartete ein paar Minuten, um ihr Zeit zu lassen, zu ihrem Abteil zurückzugehen, und öffnete dann die Tür. Er spähte in beide Richtungen, um sich zu vergewissern, daß der Gang leer war, und ging dann zum hinteren Ende des Waggons, der sich wieder einmal in einer endlos scheinenden
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