Lawinenexpreß
Kurve zur Seite neigte. Einmal zog er einen Vorhang hoch, und die eisverkrusteten Wände des Passes ragten drohend über ihm auf; ihre dunklen Schatten wurden immer wieder unterbrochen durch das Eis weiterer Wasserfälle, das im Mondschein aufleuchtete. Wargrave hielt an der Tür zum letzten Schlafwagen inne, zündete sich eine Zigarette an und klopfte dann in einer bestimmten Weise.
Phillip John machte auf. Er hielt seine Luger in der rechten Hand. Sein weißes Gesicht zeigte schockartige Überraschung, dann gewann er die Fassung zurück und ließ die Luger langsam in das Halfter mit dem Federmechanismus zurückgleiten. Wargrave legte ihm eine Hand auf die Brust und schob ihn sanft gegen die Tür des Waschraums zurück.
»Werde ich nicht eingelassen?« fragte er mild.
»Ich dachte, Sie seien noch in Mailand…«
»Ich bin überall und nirgends«, klärte Wargrave ihn liebenswürdig auf, als John wieder die Tür abschloß. »Die Leute wissen nie, wo ich wieder auftauche – und das hat mir in all den Jahren geholfen, am Leben zu bleiben. Unterhalten wir uns ein wenig, solange wir allein sind…«
Sie waren in dem engen Raum zwischen Waggonende und Waschraum eingezwängt. Von dem menschenleeren Gang aus hätte man sie ohnehin nicht sehen können. »Was um Himmels willen soll das alles?« verlangte John zu wissen. »Seitdem wir Mailand verlassen haben, hält man für Sie hier die Totenwache…«
»Weil es notwendig war, mein Guter«, erklärte Wargrave und ahmte Johns Public-School-Akzent nach. Er sah, wie eine leichte Röte in das weiße Gesicht schoß. »Und jetzt ist es an der Zeit, die Reserven ins Gefecht zu führen – mich also. Wir haben eine Arbeit zu erledigen. In diesem Waggon gibt es jemanden, den man früher einmal als Angehörigen der fünften Kolonne bezeichnet hätte. Im Klartext: jemanden vom KGB oder vom GRU.«
»In diesem Waggon?« sagte John gedehnt. »Das soll wohl ein Witz sein.« Er starrte Wargrave an. »Nein, Sie scherzen nicht. Wer ist der Mann?«
»Ich kann mich nicht erinnern, gesagt zu haben, daß es ein Mann ist.«
Wieder starrte John ihn hart an; auch diesmal wieder flackerte so etwas wie Überraschung in seinen Augen auf. »Sie können doch unmöglich Elsa Lang verdächtigen? Ich habe angenommen, sie ist bei Ihrer Truppe, seitdem…«
»Die besten Maulwürfe sind Insider und genießen das Vertrauen ihrer Vorgesetzten seit ewigen Zeiten, John. Das ist der Schlüssel ihres Erfolgs. Das müßten Sie inzwischen doch gelernt haben?«
»Elsa Lang? Ich bin erschlagen. Mein Gott, Haller wird Amok laufen, wenn er das erfährt.« Er runzelte die Stirn. »Haben Sie wirklich Beweise? Sie stehen in dem Ruf, niemals einem Menschen zu trauen…«
»Ich habe Beweise.« Wargrave trat seine halbgerauchte Zigarette unterm Fuß aus und zündete sich sofort eine frische an. Der Zug schaukelte gerade durch eine neue langgezogene Kurve. Wargrave blickte aus dem Fenster und sah das Leuchten der vorderen Waggons hinter der Lok und die Funken der Oberleitung.
»Was wollen Sie denn mit dieser jungen Dame Lang machen?« fragte John.
»Nichts.«
»Aber Sie haben gesagt, Sie hätten Beweise…«
»Das habe ich gesagt, ja«, stimmte Wargrave lakonisch zu. »Aber ich habe mit keinem Wort gesagt, daß Elsa die Agentin sei. Nur Sie haben ihren Namen ins Spiel gebracht. In Wirklichkeit ist ein Mann eingeschmuggelt worden; und zwar vom GRU…«
»Vom GRU?«
»Genau. Einen KGB-Mann hätte Marenkow erkannt. Aber es ist einer von Oberst Igor Scharpinskys Leuten. Necker war ein vorrangig Verdächtiger. Er hatte Zugang zum Kommunikationssystem…«
»War?« wollte John wissen.
»Ja. Er ist vor nur wenigen Minuten von der Liste der Verdächtigen gestrichen worden. Springer hat Elsa eine Nachricht für mich gegeben. Verstehen Sie, John«, fuhr Wargrave freundlich fort, »ich war meiner Sache sicher, als ich erfuhr, daß diese Maschinengewehrbande bei Vira den letzten Schlafwagen mit Kugeln durchsiebte. Nur den letzten Schlafwagen, wohlgemerkt – nicht den Schlafwagen davor, den Marenkow und Elsa in Mailand bestiegen haben. Die Burschen wußten also, daß er sich im letzten Waggon befand.«
John machte ein nachdenkliches Gesicht und lehnte sich gegen die Tür des Waschraums. »Das ist einleuchtend«, gab er zu. »Und wer ist jetzt der Kandidat als GRU-Mann?«
»Sie sind das.«
»Sie müssen völlig den Verstand verloren haben…«
»Weil Sie ein Scharfschütze sind«, erklärte Wargrave.
»Dann hätte ich
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