Lazyboy
Blicke treffen sich, nachdem sie genug damit zu tun hatten, unsere Schuhe zu betrachten, Schuhspitzen im Klinikgrün.
Ich gehe mit Schwiegervater und Schwiegermutter durch graue Straßen, durch Vorhänge aus Feuchtigkeit, wir gehen an Häusern vorbei, an blinden Scheiben, durch einen Park mit taubstummen Hunden, vorbei am Zaun, hinter dem der Flughafen kauert und faucht, an Start- und Landebahnen. So nah war ich ihnen nie, so nah werde ich ihnen nie und nimmer wieder sein. Im Leben nicht.
Wieder sitze ich auf einem Stuhl, es scheint jetzt Schicksal zu sein, auf Stühlen zu sitzen und zu warten und die Hände zu falten. Frau Merbold hat ein neues Bild aufgehängt, direkt hinter ihr an der Wand. Ein Miró, würde ich auf den ersten Blick sagen. Ein schwarzes Quadrat mit einer Art spastisch gelähmtem Ärmchen, das sich gleichzeitig euphorisch und schmerzgeplagt durch eine rote, wie für eine Party hergerichtete Landschaft turnt, vorbei an lauter gelblichen, polymorphen Dingen, die mich an Friedhofszubehör, Gießkannen, Grabkerzen etc. erinnern. Frau Merbold sieht aus wie immer, das heißt sehr gut. Ich habe kurzfristig einen Termin bekommen, wofür ich dankbar bin. Es könnte damit zu tun haben, dass ich am Telefon ein Schluchzen nicht habe unterdrücken können. Sie ist vielleicht eine Spur blasser und schmaler geworden. Sie sieht schön aus. Ihre großen Augen schimmern dunkelblau. Ich spiegele mich in kompletter Gestalt in diesen Augen, wie ich da auf meinem Schmerzensstuhl sitze. Sie hat gesagt, dass ich lange nicht bei ihr gewesen sei. Sie habe sich schon Sorgen gemacht. Ich habe gesagt, dass Monika im Koma liegt und ich berechtigte Angst habe, dass sie stirbt oder irreparable Hirnschäden davontragen wird. Jetzt schauen wir einander traurig an. Im Raum scheint kein Platz mehr für Worte zu sein. Ich denke daran, dass ich mit einer Frau geschlafen habe, die Frau Merbold aufs Haar gleicht. Dass ich das weiß, dass mein Körper sich daran erinnert. Und dass es absurd ist, jener Frau vom Anschein her gegenüberzusitzen und trotzdem davon auszugehen, dass sie sich nicht daran erinnert, dass ihr Körper und ihr Geist diese Erfahrung nicht gemacht haben. Dass es umso absurder scheint, als es mich von jener Frau trennt, der mein Herz gehört, die im Krankenhaus liegt, die ich mehrfach betrogen habe. Mein Herz sitzt im Krankenhaus am Bett, rot und pulsierend beugt es sich über eine blasse Frau mit dunklen Haaren in weißen Laken, dieses Schneewittchenbild, und tropft die weißen Laken voll, rot wie Blut, und es pumpt und pulst hilflos seine kleinen Gefühle vor sich hin, und es versucht, mit seinen Schläuchen und Arterien danach zu greifen, diesem weißen Reh vorm schwarzen Wald im Schnee zwischen den Stämmen, aber es vertreibt es immer bloß. Und ich sitze hier in diesem Behandlungszimmer mit einem Loch in der Brust, einem Hohlraum, die Leere dröhnt, ich denke, dass wir es beide hören, Frau Merbold und ich, das hohle Dröhnen aus der Brust, zumindest sehen wir aus, als würden wir gemeinsam lauschen.
»Hilft es Ihnen, hier zu sein?«, fragt Frau Merbold nach einer Weile mit traurigen Augen und schief gelegtem Kopf.
Ich zucke mit den Schultern. Wahrscheinlich.
Endlich bin ich alleine mit ihr. Ich sitze am Bett und betrachte die schlangenschwarzen Haare. Ich stelle mir die stille, innerliche Wanderung vor, auf der sie sich befindet. Ich stelle mir vor, dass sie die weiße Galerie besucht, dass sie schweigend und still durch die weißen Säle schlendert, mit der ganzen Zeit der Welt im Rücken, und die weißen Gemälde betrachtet, Weißes auf weißem Grund, die Hände auf dem Rücken verschränkt.
Ich stelle mir vor, dass ich in jedem Saal der Mann in der weißen Uniform bin, der sie daran hindern soll, zu dicht an die Exponate heranzutreten.
Aber ich lächele sie immer nur an, wenn sie den Raum betritt, das heißt, ich erwidere ihr Lächeln, es geht nicht anders, und dann nicke ich ihr aufmunternd zu, treten Sie doch bitte dichter heran und schauen Sie genau. Und sie tritt ganz dicht an jedes weiße Bild heran und atmet auf die Oberfläche, sie haucht einen Kuss auf die Dispersion, und mir ist, als gelte dieser Kuss in Wirklichkeit mir, es fühlt sich an, als habe sie eigentlich jedes Mal nur mich geküsst. Ich höre die weißen Kameras unter der Decke surren und sich neu justieren, aber es ist mir gleich, ob sie das Geschehen einfangen. Es ist mir gleich, ob ich wegen eines Kusses meinen Job verliere. Ich
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