Lazyboy
Licht hinab in die Tiefe, bis sie ins tiefe Schwarz gelangt. Und plötzlich wird es wieder leicht zu atmen. Sie kann sich einhaken, festhalten im Schwarz, ohne hinauf in grelles Nichts gezogen zu werden. Sie steht aufrecht in der Schwärze und blickt mit ganz geöffneten Augen um sich. Sie spürt, dass sie noch nie so weit geöffnete Pupillen hatte, dass es immer ein zu viel an Licht gab, dass dieses Schwarz eine Labsal ist. Sie fühlt, wie das sie umgebende Schwarz sich an sie schmiegt, sie umhüllt, umzärtelt, wie es mit mehr als zehn Fingern auf ihrem Körper spielt und jede Faser seine Schönheit spüren lässt. Sie will nicht gehen. Aber sie spürt, dass die Zeit gekommen ist, und also reißt sie sich los aus dem warmen, umfangenden Schwarz. Und durch diese Bewegung entsteht ein Riss, durch den goldenes Licht strömt auf eine Weise, die ihren Augen nicht wehtut. Und sie greift in dieses Gold hinein und vergrößert die Öffnung. Und es ist klar, dass dies, dass das der Ausgang ist, auf den sie gewartet hat, nicht erst seit heute. Und also schlüpft sie hinein in das Gold.
Ich seufze.
Frau Merbold denke ich mir in ihrem Behandlungszimmer. Sie sitzt am Schreibtisch und spielt mit dem Bleistift zwischen ihren Fingern. Sie trommelt damit auf dem Schreibblock herum, der vor ihr liegt. Sie weiß, dass es Zeit ist, die nächste Patientin hereinzubitten. Es ist schon zehn Minuten her, dass sie die letzte Depressive aus dem Raum begleitet, sie verabschiedet und dann zur Nächsten, zur Wartenden im Wartezimmer gesagt hat, sofort, ich brauche noch ein, zwei Minuten, und jetzt sitzt sie hier seit zehn Minuten, seit zwölf Minuten, um genau zu sein, und starrt vor sich hin und weiß überhaupt nicht, was los ist. Sie hat das Gefühl, dass sie auch in den folgenden 20 Minuten nicht in der Lage sein wird, diese Patientin zu sehen. Eine übergewichtige Depressive, ein hängender, teigiger Körper mit schlappen Haaren. Dass sie nicht in der Lage sein wird, überhaupt eine Entscheidung zu treffen. Sie legt den Bleistift mit Nachdruck auf den Schreibtisch. Sie schiebt ihren teuren Schreibtischstuhl quietschend nach hinten. Sie geht mit vier entschlossenen Schritten zum Spiegel hinüber, der an der Wand rechts von ihr hängt, in dem sich, wenn eine Klientin vom Platz vor dem Schreibtisch hineinschaut, die große Kastanie draußen vorm Fenster spiegelt, sie hat das ausprobiert. Sie tritt vor den Spiegel und hält sich mit beiden Händen am Rahmen fest. Sie guckt in den Spiegel und sie kann sich erkennen, immerhin, der Umstand beruhigt sie. Aber was ist bloß los? Im Spiegel, auf der anderen Seite oder wie auch immer, steht sie nicht einfach spiegelverkehrt da und hält sich an etwas fest, das sie nicht sehen kann, starrt sich forschend ins Gesicht, sondern dort sitzt sie in einem Zimmer, das sie nicht kennt, auf einem Bett, das ihr fremd ist, und starrt einen Schrank an, vor dem sich ein breitschultriger Mann aufgebaut hat, der eine mittelalterlich anmutende Lederkappe trägt. Sie sitzt auf diesem Bett und schaut den Mann mit einem melancholischen Gesichtsausdruck an. Ihre Haare sind anders, sie trägt sie länger dort, im Spiegel, und sie ist in ein lilanes Oberteil gehüllt, das aussieht, als habe sie es bei C&A im Schlussverkauf erworben oder als stamme es aus den Restbeständen einer DDR-Boutique. Sie schaut sich dabei zu, wie sie auf dem fremden Bett sitzt und einen Finger in den Mund steckt, um am Nagel herumzuknabbern, und sie hat keine Ahnung, was es bedeutet.
»Und, wie ist es da unten?«, sagt die Person, die sich über den Brunnenschacht beugt, eine dunkle Gestalt vor dem Übermaß Licht. Und an der Stimme erkenne ich, dass es die alte Frau ist, die mir dies eingebrockt hat.
»Im Grunde kann ich mit dir machen, was ich will«, sagt sie in nüchternem Tonfall, »du bist mir ausgeliefert, und wenn mir etwas nicht passt an deinem Verhalten, dann rufe ich einfach den Lehrer.«
Ich brumme vor mich.
Ich sage: »Du kannst ja runterkommen, du verrücktes Huhn, du kannst ja gucken, was passiert.«
Dann lässt sie etwas fallen, ich sehe es dunkel auf mich zuschlingern, und als es auf meinen Kopf trifft und mit einem trockenen Geräusch im Sand liegen bleibt, erkenne ich einen flachen Laib Brot. In dem Moment fällt mir auf, wie groß mein Hunger ist. Anschließend lässt sie eine 1,5-Liter-Plastikflasche Wasser an einem Bindfaden zu mir herab. Ich greife nach der Flasche, als sie in Reichweite ist und ziehe ruckartig am
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