Lazyboy
einen zweiten, unbewachten Weg hinaus aus Beek suchen, auf die andere Seite oder am besten direkt in meine Welt.«
»Hm«, macht sie und rührt lächelnd in einem Tässchen Tee, das sie sich eingeschenkt hat. »Vom Brunnen haben Sie noch nicht gehört, oder?«
»Brunnen?«, sage ich.
»Es gibt einen Brunnen, den der Widerstand schon lange benutzt. Das Regime hat meines Wissens von diesem Ausgang keine Kenntnis.«
»Ein Brunnen?«
»Ja, ein stillgelegter Brunnen. Ein Abstieg. Ein Ausgang. Unsere Passage.«
»Wohin?«, frage ich.
»Tja«, sagt die alte Dame.
»Haben Sie den Brunnen benutzt? Sind sie außerhalb Beeks gewesen? Was hat es denn auf sich mit diesem Widerstand?«
In diesem Moment bollert es gegen die Wohnungstür.
»Ha«, sagt sie mit einem Blitzen in den Augen, »damit war zu rechnen, dass sie irgendwann zu mir kommen. Los, schnell, hinter den Teppich!«
Sie springt erstaunlich beweglich zum Wandbehang hinüber und hebt eine Ecke für mich an. Auf dem Wandteppich befinden sich zwei Elefanten, die sich mit den Rüsselspitzen sanft berühren. Hinter dem Wandteppich ist eine Nische in die Wand eingelassen, von außen nicht zu bemerken. Trotzdem scheint mir dieses Versteck arg durchschaubar. Wenn ich einen Raum zu durchsuchen hätte, würde ich sicherlich als Erstes hinter einem Wandteppich nachgucken. Ich könnte also auch gleich stehen bleiben und rufen. Ich gleite trotzdem in die Nische hinein. Sie lässt die Teppichecke fallen, ich verschwinde hinter Teppichmuff. Augenblicklich überfällt mich ein drängender Nieswunsch. Ich stehe jämmerlich in staubgetränktem Dämmer.
»Das ist ja schön, dass du vorbeischaust, Hildegard«, höre ich die Stimme meiner Hüterin.
Die Stimme einer zweiten Alten sagt: »Ja, als du mich am Zaun auf eine Tasse Tee eingeladen hast, habe ich mich gefragt, ob du nicht vielleicht auch wieder diesen köstlichen Rhabarberkuchen gebacken haben könntest?«
»Richtig, richtig«, höre ich meine Gastgeberin, »dann mache ich mal den Tee für uns zwei alte Schachteln, nicht?«
Als die Besucherin ausreichend mit Tee und Kuchen und Neuigkeiten versorgt ist, ich habe unter anderem erfahren, dass ihr Neffe einen Kursus beim Korologen Doktor Schulte absolviert hat, werde ich aus meinem Gefängnis hinter dem Teppich befreit.
»Kommen Sie«, sagt die Frau mit entschlossenem Gesichtsausdruck, »ich führe Sie jetzt zum Brunnen. Schließlich steht hier einiges auf dem Spiel.«
»Sie wollten mir noch erzählen«, sage ich und niese, »was das bedeutet, Sie organisieren den Widerstand? Wogegen?«
»Ach, gegen diese ganze Clique, den Lehrer, den Bürgermeister, den Apotheker und noch ein paar andere, die hier seit Langem die Regeln machen und die Freiheit unterdrücken. Der Lehrer vor allem. Mein Mann und ich sind schon ewig überzeugt, dass diese Herren ein Interesse daran haben, Beek von der Welt abzuschneiden, dass sie diesen Zustand künstlich verlängern oder sogar hergestellt haben.«
»Wie?«, frage ich.
»Das wissen wir nicht. Aber wir sammeln seit Jahren Beweise. Kommen Sie, das soll jetzt nicht Ihr zentrales Problem sein.«
Wenn ich nicht wüsste, dass sich irgendwo hier Daphne tummelt, würde ich diesen Brunnen nutzen und auf der Stelle ohne Unterbrechung Richtung Krankenhaus durchreisen, wenn das geht.
Die alte Dame führt mich in den Garten hinter dem Haus, vorbei an ein paar Blumenbeeten, Dahlien und Astern, sage ich mal so als Blumenexperte, ein Kirschbaum, etwas Gemüse mit gelben, welken Blättern. Sie führt mich in den rückwärtigen Teil, wo hinter zwei Vogelbeerbüschen eine dunkelrote Metallplatte auf dem Boden liegt. Gemeinsam machen wir uns an der Platte zu schaffen, schieben sie zur Seite. Darunter kommt ein gemauerter Schacht zum Vorschein, aus dem es feucht und kühl zu mir heraufweht. Es ist schwarz in der Tiefe, ich kann nicht erkennen, wie tief es da hinuntergeht. Dunkler, fauliger Atem weht mir entgegen, als hauche mich ein in der Tiefe vergrabener Riese an.
»So tief geht es da gar nicht hinunter«, sagt die Dame, »der Eindruck täuscht. Man denkt, der Brunnen führt bis in den Bauch des Universums hinab, nicht wahr?«
»Ja,« sage ich und schlucke.
»Auf geht’s«, sagt sie und klapst mir auf die Schulter. »Daphne hat ihn auch schon oft benutzt.«
»Moment«, sage ich. »Sie kennen Daphne?«
»Aber sicher. Hat sie Ihnen nicht davon erzählt?«
»Seit wann kennen Sie Daphne?«
»Och, schon ewig. Seit sie ein ganz kleines Mädchen
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