Lazyboy
Faden. Von oben höre ich die Alte fluchen, das Band hat ihr in die Hände geschnitten, und dann trudelt ein sechs Meter langes Stück Paketband zu mir herunter, ich bin gespannt, was ich damit noch werde anstellen können.
Ich sitze im Sand, habe mir den Bindfaden um Hand und Knöchel gewickelt. Ich sehe dabei zu, wie es innerhalb und außerhalb des Brunnens dunkel wird. Zunächst innerhalb, dann außerhalb. Wie sich das grelle Karmesinrot der Ziegel in ein dunkleres, weicheres Braunrot verwandelt. Wie der Himmel draußen sein reines Weiß gegen immer intensivere Blautöne eintauscht, wie es erst milchig um mich herum und dann schlicht dunkel wird. Ich sitze im Schwarz und betrachte den blauen Kreis über mir, der leise schimmert. Angst habe ich nicht, ich bin ganz ruhig. Ich verliere Zeit, das ist alles. Dann höre ich wieder die Stimme der Alten, sie klingt fast ebenso entspannt wie ich. Vermutlich hat sie sich auf den Brunnenrand gesetzt, umfasst ein Knie mit beiden Händen, lässt den Fuß wippen.
»Ich schlage dir einen Handel vor«, sagt sie, als würden wir uns schon seit geraumer Zeit unterhalten, als nehme sie bloß den Faden wieder auf.
»Ich höre?«, sage ich.
»Ich hole dich hoch, ich lasse dich raus, ich schenke dir die Freiheit.«
»Klingt gut«, sage ich.
»Und dafür nimmst du mich mit hinaus aus Beek.«
»Aha«, sage ich.
»Du bist in meiner Hand.«
»Klar«, sage ich.
»Du nimmst mich mit, und ich schenke dir die Freiheit.«
»Schon klar.«
Wir schweigen eine Weile.
»Und?«, fragt sie. »Interesse?«
»Wohin soll es denn gehen?«
»Egal. Hauptsache raus. Ich kann das Kaff nicht mehr sehen.«
»Waren Sie schon einmal draußen?«
»Wer weiß?«, sagt sie.
»Also nein«, sage ich. »Warum fragen Sie denn nicht einfach Ihre Daphne?«
»Ach die!«
»Sie will Sie nicht mitnehmen?«
»Pah! Sie sagt, es reicht, wenn einer wurzellos durch die Welten wandert. Als hätte sie eine Ahnung, so ein Backfisch. Mit der bin ich fertig.«
Oben sehe ich es kurz Licht werden, ein intensiver, gelborangefarbener Schein, der eine scharf gezeichnete Adlernase aus der Nacht schält. Sie hat sich eine Zigarette angesteckt. Ich sehe einen kleinen Glutpunkt leuchtend über mir tanzen wie einen einzelnen, abgerichteten, aufs Wort gehorchenden Glühwurm.
»Stimmt«, sagt sie, »um ehrlich zu sein: Nein. Ich war noch nie draußen. Dieser Brunnen ist nur ein Brunnen ohne Wasser, ein Ex-Brunnen. Es wäre mir ganz egal, wohin du mich führtest und was dort aus mir würde. Ich bin alt genug, um ins Ungewisse zu gehen. Ich habe hier mein ganzes, langes Leben verbracht, und es reicht mir.«
Ich sage: »Meines Wissens wird der Ausgang bewacht. Man wird uns nicht einfach so gehen lassen. Oder können Sie daran etwas drehen?«
»Wer weiß?«, sagt sie wieder. »Du musst mir schon ein wenig Vertrauen schenken. Ich kenne Mittel und Wege.«
»Vertrauen, ausgerechnet.«
»Ich lasse dich mal in Ruhe darüber nachdenken.«
»Moment«, sage ich, aber oben bleibt es still. Ich weiß nicht, ob ich die Worte sinnlos in den Brunnen spreche. Ich sage: »Zu Hause wartet eine Frau auf mich. Die Frau, die ich liebe. Wir wollen heiraten. Gerade liegt sie allerdings in einem Krankenhaus und ist nicht bei Bewusstsein. Ein Unfall. Sie befindet sich im Koma und niemand weiß, ob sie jemals wieder daraus erwachen wird und wie sie sein wird, sollte dieses Wunder geschehen. Und ich will im Grunde nichts, als dass sie erwacht. Ich will nichts, als an ihrem Bett zu sitzen und dabei zuzusehen, wie sie zu sich kommt. Hier ist nicht der Ort, an den ich gehöre, nicht diese Stadt, nicht dieser Brunnen. Ich gehöre in das Krankenhaus an die Seite der Frau. Und es ist mir egal, was Sie mit mir und mit sich selbst vorhaben. Lassen Sie mich raus, der Rest ist mir egal. Machen Sie, was Sie wollen.«
Und dann wird es still. Der orange Lichtpunkt trudelt durch die Dunkelheit zu mir herunter, wird größer, füllt mein Gesichtsfeld aus. Plötzlich wird es hell im Schacht, ich kann meine Hände im orangefarbenen Licht leuchten sehen, dann zischt es im Sand und das Dunkel hüllt mich wieder ein.
Es riecht noch eine Weile nach Zigarette.
Später wird es feucht und kalt im Brunnen. Ich zittere, ich schlottere vor mich hin. Die Kälte dringt mir bis ins Mark. An Schlaf ist nicht zu denken. Der Sand unter mir fühlt sich an wie eine Eisfläche am Pol, eine Eisscholle, auf der ich ausgesetzt wurde, so treibe ich alleine durchs Eismeer.
Ich sitze im
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