Lazyboy
Meinung, das musst du. Aber ich verstehe nicht ganz, warum du hier dann plötzlich die Topografie erforschen willst? Ich dachte, wir wollten so schnell wie möglich von hier weg, ab durch den Schrank!«
»Der Schrank wird bewacht«, sage ich. »Also müssen wir wohl oder übel den langen Weg gehen. Oder kennst du noch einen Ausgang, Brunnen zum Beispiel?«
Daphne blickt mich kurz an, dann übergeht sie die Anspielung.
»Drüben«, sage ich, »in der wirklich wirklichen Welt, in unserer Welt, ja?, liegt Monika im Krankenhaus.«
»Eben«, sagt sie.
»Sie liegt im Koma, weil die Verbindung ihrer Hirnhälften unterbrochen ist, Split-Brain-Syndrom, so heißt das, sagt der Arzt, medizinisch gesprochen, Läsion des Balkens. Und hier, in dieser Welt, haben wir es mit einer Stadt zu tun, die ebenfalls unter einer Art Split-Syndrom leidet. Und wen beauftragt man damit, die Trennung endlich aufzuheben? Mich, ausgerechnet. Findest du das nicht sonderbar?«
»Du meinst ...? Na gut, das ergibt auf eine krude Art und Weise Sinn. Aber wie kommst du darauf, dass wir die Teilung überwinden, wenn wir dem Fluss folgen?«
»Paradoxe Logik«, sage ich.
»Wie?«
»Ich habe mir die Frage gestellt, was das überhaupt ist, dieses Beek. Ich habe so etwas wie eine Kosmologie entwickelt. Nach dem Gesetz der Analogie der Welten stelle ich mir Beek als eine Kugel vor, Beek jetzt nicht nur als geteilte Stadt, sondern als abgeschlossenes Universum gewissermaßen.«
»Nach welchem Gesetz?«, fragt Daphne müde.
»Nach dem Lazyboyschen Gesetz der Analogie der Welten.«
»Ach so«, sagt sie, »klar.«
»Wenn meine Welt, aus der ich stamme, aus der wir stammen, eine Kugel ist, warum sollte es sich dann mit Beek nicht genauso verhalten?«
»Okay, Kopernikus«, sagt sie, »klingt super.«
»Ich stelle mir Beek also als Kugel vor. Und nicht als irgendeine Kugel, konkret stelle ich mir Beek als Ball vor, anatomisch gesehen: wie den Augapfel. Kannst du mir folgen?«
Daphne guckt mich mit ausdruckslosem Gesicht an.
»Der Glaskörper, also der ganze Ball, ist die Gesamtheit Beeks inklusive Stadt, Land, Fluss. Das heißt, die Oberfläche des Augapfels entspricht der Einöde. Die Iris wäre dann die eigentliche Stadt Beek, die sich zentral in der Einöde befindet. Und in der Mitte der Stadt befindet sich der See, der demnach die Pupille des Augapfels bildet. Der Fluss Beek, der Bachlauf, und hier, gebe ich zu, wird es etwas komplex, entspricht dem Sehnerv, der auf beiden Seiten jeweils von der Iris, dem Zentrum, zur Peripherie abgeht.«
»Was für eine jämmerliche Analogie«, unterbricht mich Daphne. »Wir hatten das Auge in der sechsten Klasse. Der Sehnerv geht nicht von der Pupille ab, du Honk, sondern hinten vom Augapfel, beim blinden Fleck oder so. Dein ganzes Konzept ist Mist, wenn du mich fragst. Und es gibt nur einen Sehnerv und nicht zwei. Außerdem, was entspricht in deinem Bild der Wand, das Skalpell des Augenchirurgen, oder was? Und überhaupt sind es immer zwei Augen. Oder kennst du auch Einäuger? Oder gibt es jetzt zwei Beeks?«
»Es ist ja nur eine Analogie«, sage ich. »Du musst es dir einfach mal bildlich vorstellen. He, ich bin der Mittler, ich bin immerhin der Auserwählte hier!«
»Schon klar«, schnauft Daphne. »Und du bist überzeugt, dass wir uns mittels dieses Bildes befreien können, ja? Denn wenn Beek tatsächlich eine Kugel sein sollte, müssten wir ja wohl auf der anderen Seite auch auf die Wand treffen, hm?«
»Ach was«, sage ich. »Du musst mir einfach mal vertrauen. Ich habe dir ja auch die ganze Zeit vertraut.«
Daphne guckt mich mitleidig an. Zu mitleidig für meinen Geschmack. »Und du hast ein wissenschaftliches Experiment gemacht, ja?«
»Genau«, sage ich. »Aber das soll erst einmal mein Geheimnis bleiben. Ich möchte auch einmal ein Geheimnis haben, junge Dame.«
Daphne schüttelt sanft den Kopf. Sie sagt: »Ich habe keine Ahnung, was du mir sagen willst. Aber ich bin einverstanden. Wir machen es so. Wir machen eine Expedition mit Seilen ins dunkle Herz des Augapfels. Hört sich toll an in meinen Ohren.«
Daphne und ich werden von zwei Männern mit Fackeln zum Schulhaus geleitet, dem informellen Machtzentrum der Stadt. Die Straßen sind menschenleer. Eine eigentümliche, schicksalsschwere Stille liegt über dem Städtchen.
Das Klassenzimmer ist nach meinem Ausbruch wieder einigermaßen hergerichtet worden, die Bücher stehen in den Regalen, nur eine ausgestopfte Eule sieht ein wenig
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