Lea
eine Hohepriesterin. Es wurde kühler im Raum, wenn diese Priesterin, wie Konkurrenten sie hinter ihrem Rücken nannten, hereinkam. Doch der selbstkasteiende Anspruch, der ihr diese Aura der Unnahbarkeit und Überforderung verlieh, wucherte über die Musik hinaus und vergiftete so manches andere, vor allem die Dinge, auf die sich Lea in atemlosem, exaltiertem Eifer stürzte, wenn sie etwas Neues brauchte, das ihr die wenigen Pausen zwischen Üben und Hausaufgaben füllen sollte. In Windeseile wurde sie zur Expertin für Tee, für Porzellan, für alte Münzen, und alle, die den Bannkreis des gerade aktuellen Themas zu betreten wagten, wurden Opfer ihrer scharfrichterlichen Ungeduld, die sich nie in harschen Worten äußerte und überhaupt nicht in Worten, sondern darin, daß ihre sonst so lebendigen Gesichtszüge eckig und schemenhaft wurden, bis nur noch ein Lächeln von steinerner Höflichkeit darin Platz fand.
Irgendwann sollte Marie sich gegen Leas Vereinnahmung zur Wehr setzen, die an jenem Abend begann und keine Grenzen kannte, überhaupt keine. Doch zu Beginn fand sie, die keine Kinder hatte, die Tyrannei einer Achtjährigen amüsant, und so ging sie zum Flügel hinüber, auf dem ihre Geige lag. Aus der Tasche des Batikkleids zog sie ein Band aus schwarzem Samt, mit dem sie das Haar zusammenraffte, damit es sie beim Spielen nicht störe. Mit wenigen knappen Bogenstrichen vergewisserte sie sich, daß es nichts zu stimmen gab, und dann begann Marie Pasteur, die mit ihrem Aussehen und ihrem Klang einst das Berner Konservatorium in Aufruhr versetzt hatte, einen Satz aus einer Sonate von Bach zu spielen. Johann Sebastian Bach : Sie sprach den Namen aus, als sei er der Name eines Heiligen.
Ich habe in den Jahren danach viel Violinmusik gehört. Doch nichts – so sagt es mir die Erinnerung, der ich freilich zu mißtrauen lernte, mit jedem Jahr und jedem Schmerz mehr – reichte an das heran, was ich damals hörte. Ich bin überzeugt, Cécile hätte gesagt: hallucinant . Und es wäre das treffende Wort gewesen, denn Maries Spiel besaß eine Klarheit und Präzision, eine Intensität und Tiefe, die alles, was es in der Welt der Töne sonst noch geben mochte, vollkommen unwirklich erscheinen ließ. Loyola de Colón – wie weit lag das zurück, und wie unvollkommen war es gewesen!
Lea hörte regungslos zu, doch ihre jetzige Reglosigkeit war etwas anderes als die Trance im Bahnhof. Sie hörte der Frau zu, die ihre Lehrerin sein würde, und sie tat es mit der überwachen Konzentration, mit der sie für viele Jahre jedes Wort in sich aufnehmen würde, das Marie sagte. Ich hatte keine Mühe, diese ausschließliche, verzehrende Aufmerksamkeit in mir nachzubilden. Nicht nur war Marie Pasteur eine Schönheit, die alles durcheinanderbringen konnte; nicht nur besaß sie diese gewaltlose Stärke in ihrem Spiel und ihren Entscheidungen; darüber hinaus konnte sie sich in eine heilige Leidenschaft hineinspielen, die einem den Atem verschlug. Das wäre der Griff nach den Sternen, dachte ich, während mein Blick die Linien ihres Gesichts entlang glitt. Und diese Worte irrlichterten nachher durch meinen Schlaf: nach den Sternen greifen .
Als Marie geendet hatte, ging Lea zu ihr und berührte die Geige wie einen magischen, metaphysischen Gegenstand. Marie strich ihr übers Haar. ›Wann ist die Schule am Montag aus?‹ fragte sie, und dann wurde die erste Stunde festgelegt.
So nüchtern und unspektakulär begann, was sich zu einem wahren Ausbruch an Talent, Hingabe und leidenschaftlichem Willen steigerte.
Ich gab Marie die Hand. ›Merci‹ war alles, was ich herausbrachte. ›Ja‹, gab sie zurück, und ihr Lächeln verriet, daß sie mit dem einen Wort meine Wortkargheit parodierend nachahmte. Jahre später, kurz vor dem Ende, waren es ein paar Worte mehr: ›Danke, daß du mir Lea gebracht hast‹.«
Die letzten Worte gingen in Tränen unter. Van Vliet warf die Zigarette weg und schlug die Hände vors Gesicht. Seine Schultern zuckten.
»Komm, wir gehen ans Wasser«, sagte er nachher. Ich denke gern an diesen Satz zurück, und wenn ich in Gedanken mit dem Mann auf dem Foto rede, der im Gegenlicht den Flachmann hebt, duze ich ihn auch. Martijn, sage ich dann, warum hast du mich nicht wenigstens noch einmal angerufen. Wenn es denn wirklich so war, wie ich denke.
Doch damals empfanden wir, denke ich, beide dasselbe: Wir waren dabei, uns in einer Weise füreinander zu öffnen, die, was die Anrede anging, ein festes Gerüst
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