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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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brauchte, einige Verstrebungen wenigstens, die halten würden, was immer es sein mochte, das noch kam. Damit wir nicht ineinander stürzten. Und so blieb es beim Sie . Nur ein einziges Mal noch, sehr viel später, sagte er du . Und da war es wie der letzte Hilfeschrei eines Mannes vor dem Ertrinken.
    »An jenem Abend vergaßen wir zu essen«, fuhr Van Vliet am Wasser fort. »Auch gesprochen haben wir kaum. Lea fuhr mit dem Bogen kratzend über die Saiten, und ich saß an meinem Schreibtisch und betrachtete das Foto von Marie Curie.
    Es störte mich, daß sie, gemessen an der Eleganz von Marie Pasteur, bieder aussah. Ich nahm es ihr übel. Es war, als ließe sie mich im Stich. Nur die Augen hielten den Vergleich aus. Zwar hatten Madame Curies Augen nicht die Leuchtkraft und den quecksilbrigen Schalk, die Marie Pasteurs grünen Blick so unwiderstehlich machten. Dafür lag eine unerhörte Sanftheit und Güte in den Augen der Frau, die als einzige zwei naturwissenschaftliche Nobelpreise bekommen hatte. Ich hatte ihr Foto aus dem Buch ausgeschnitten, mit dem mich Hans Lüthi überrumpelt und gerettet hatte. Diese Augen, die die Augen einer Nonne hätten sein können, waren lange Zeit meine Zuflucht gewesen, wenn ich als Student nicht mehr weiter wußte und kurz davor war, alles hinzuschmeißen und mich zu Aljechin zu flüchten, zu Capablanca und Emanuel Lasker.
    Das einzige Geheimnis meines Erfolgs war meine Hartnäckigkeit. Der Satz war nicht von Madame Curie, sondern von Louis Pasteur, aber ich schrieb ihn der großen, nonnenhaften Forscherin zu, denn die beiden waren ohnehin ein und dieselbe Person. Cécile war stets ein bißchen eifersüchtig auf sie gewesen, und zweimal während unserer Ehe war das Bild heruntergefallen und mußte neu gerahmt werden. Madame Curie hatte studieren dürfen, sie nicht. Zwar leitete sie jetzt die Schwesternausbildung, und manch junger Arzt holte sich Rat bei ihr. Doch das half wenig gegen die bittere Überzeugung, daß auch sie eine gute Ärztin und Forscherin hätte werden können, wenn der Vater nicht das ganze Geld verspielt und versoffen hätte, so daß sie so schnell wie möglich einen Beruf erlernen mußte, zudem einen, der ihr half, die bettlägrige Mutter zu pflegen. In den dunkleren Zeiten unseres gemeinsamen Lebens wandte sich ihre Bitterkeit auch gegen mich. ›Gut, deine Eltern waren nie da‹, pflegte sie dann zu sagen, ›aber du weißt gar nicht, was du damit für ein Glück gehabt hast.‹
    Lea war verzweifelt, daß sie es nicht schaffte, den Bogen richtig zu halten, und stampfte vor Ungeduld auf. Wir versuchten gemeinsam, uns an die Namen der Geiger zu erinnern, deren Portraits bei Marie im Musikzimmer hingen. Bevor ich einschlief, sah ich meine Tochter noch einmal vor mir, wie sie Marie aufgefordert hatte, ihr etwas vorzuspielen. Ich sah ihren fordernden Blick und die Art, wie sie sich dabei mit einem Stolz aufgerichtet hatte, den sie sich noch würde verdienen müssen. Dann dachte ich zurück an den bleiernen Schritt und den gesenkten Blick, mit dem sie neben Caroline aus der Schule gekommen war. Es waren gerade mal zwei Tage vergangen.«
7
    VAN VLIET SCHLIEF , als wir nach Saint-Rémy zurückfuhren. Ich war froh darüber, es kamen uns viele Lastwagen entgegen. Kurz vor der Einfahrt in die Stadt, als ich scharf bremsen mußte, schreckte er auf und rieb sich die Augen. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte er und dirigierte mich zu der Klinik, die einmal ein Kloster gewesen war.
    »Hier«, sagte er, nachdem wir durch den Park gegangen waren. »Hier habe ich mit dem Fernglas gestanden, damals, und habe gewartet, bis sie heraustrat, in den Garten, so um zwei, drei. Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten. Ich wußte ja, ich durfte sie nicht besuchen – der Maghrebiner –, aber ich mußte sie wenigstens aus der Ferne sehen, und so bin ich in Bern ins Auto gestiegen und losgefahren, oft nachts, ich kenne die Strecke in- und auswendig. Ich habe Bach gehört und …« Er schluckte. »Im Hotel begrüßten sie mich mittlerweile wie einen alten Bekannten. Beim ersten Mal hatte ich den Fehler gemacht, etwas von Lea zu sagen, und nun empfingen Sie mich immer mit ›Ah, le père de Léonie …‹ Es war eine Tortur.
    Ich habe mit einer Geige das Leben meiner Tochter zerstört. Das ist es, was ich dachte, wenn ich wieder abfuhr. Wie oft habe ich gesehen, wie sie regungslos auf der Mauer dort drüben saß, die Arme um die Knie geschlungen; oder wie sie zögernd und ziellos

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